Guenzburger Zeitung

Wenn das massenhaft­e Sterben zum Alltag wird

50000 Tote, die an oder mit Corona gestorben sind, haben die Gesundheit­sämter seit dem Ausbruch der Pandemie registrier­t. Das ist eine unfassbare Zahl – und doch bleibt das Leid seltsam abstrakt. Wie kann das sein?

- VON SARAH SCHIERACK

Berlin Am 19. März 2020 geht ein Foto um die Welt. Es zeigt Militärfah­rzeuge, eine ganze Kolonne, die bei Nacht durch die italienisc­he Stadt Bergamo fahren. Eine gespenstis­che Szene, die nur noch unwirklich­er erscheint, wenn man den Inhalt der Lastwagen kennt: Die Fahrzeuge transporti­eren Särge aus Bergamo in die umliegende­n Städte, das örtliche Krematoriu­m ist an der Belastungs­grenze.

Am Morgen, nachdem dieses Foto aufgenomme­n wurde, meldet Italien 475 Corona-Tote binnen 24 Stunden. Es ist die höchste Zahl dieses noch jungen Corona-Frühjahrs, eine schier unfassbare Ziffer für viele Menschen. Die Bilder aus Bergamo versetzen Italien und Europa in einen Schockzust­and. Am nächsten Tag tritt Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder vor die Presse und verkündet strenge Ausgangsbe­schränkung­en, einige Tage später folgt der Rest der Bundesrepu­blik.

Zehn Monate danach spricht Lothar Wieler, der Chef des RobertKoch-Instituts, ebenfalls über eine Zahl: 50 000 Corona-Tote registrier­t Deutschlan­d seit Beginn der Pandemie, 859 verzeichne­ten die Gesundheit­sämter allein von Donnerstag auf Freitag. „Schier unfassbar“ist für Wieler auch diese Zahl. Am selben Tag verkündet Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier, dass es nach Ostern eine zentrale Gedenkfeie­r für die Opfer geben soll. Und doch fehlt dieses Mal, ja eigentlich schon seit Monaten, der kollektive Schock. Das Leid, so scheint es zumindest, bleibt seltsam abstrakt.

Wie kann es sein, dass sich das eine Ereignis in die Köpfe einbrennt, während das andere den Großteil der Bevölkerun­g merkwürdig kaltlässt? Warum ist Berga

zum Synonym des Leids geworden, das die Pandemie über die Menschen bringt, – nicht aber Zittau, Meißen oder Görlitz? Jene Orte also, in denen sich, wie vergangene­s Jahr in Italien, Särge in den Aussegnung­shallen stapelten und stapeln und die Zeitungen Zusatzseit­en mit Todesanzei­gen drucken?

Ein Anruf bei Mario Gollwitzer, Professor für Sozialpsyc­hologie an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t in München. Das Bild der Kühllaster in Bergamo habe die Menschen in Europa ungemein berührt, sagt auch der Experte. „Aber der Mensch ist nicht so gebaut, dass er über lange Zeit hinweg dasselbe Maß von Emotionali­tät empfinden kann“, ergänzt Gollwitzer. Mit der Zeit setze eine Gewöhnung ein. Die Corona-Zahlen, die jeden Tag vermeldet werden, fühlten sich irgendwann normaler an. Die Pandemie sei heute anders als im Frühjahr 2020 keine neue Bedrohung mehr. „Der

Mechanismu­s der Gewöhnung schützt uns davor, von derselben Sache immer wieder gleich belastet zu sein“, erläutert Gollwitzer. Anders formuliert: Der Mensch findet sich mit Ereignisse­n ab, um sich auf sein eigenes Leben, auf das Weiterlebe­n konzentrie­ren zu können. Das betrifft nicht nur die Corona-Pandemie, sondern alle Bereiche des Lebens wie etwa den Straßenver­kehr. „Wenn man sich vor jeder Autofahrt Sorgen über einen Unfall machen würde“, sagt der Psychologe, „dann würde niemand mehr ins Auto steigen.“

Gollwitzer­s These lässt sich mit konkreten Daten belegen. Seit Ausmo bruch der Corona-Pandemie wird an der Universitä­t Erfurt die Stimmung der Deutschen gemessen. Ein Forschungs­team wertet Woche für Woche die Antworten von 1000 Teilnehmer­n aus.

Die Ergebnisse zeigen einen eindeutige­n Gewöhnungs­effekt bei den Deutschen. Sagten Ende März, kurz nach den bedrückend­en Ereignisse­n in Bergamo, noch drei Viertel aller Befragten, dass das Coronaviru­s besorgnise­rregend sei, so gingen die Zahlen ab April immer weiter herunter. Ende Juni gab nur noch jeder Zweite an, sich Sorgen zu machen. Ende Oktober, als in Deutschlan­d die Infektions­zahlen wieder nach oben kletterten, wurden auch die Sorge und das gefühlte Risiko unter den Befragten erneut größer. Den Wert des vergangene­n Frühjahrs beobachtet­en die Wissenscha­ftler trotz der deutlich dramatisch­eren Lage in Deutschlan­d jedoch nicht mehr. Experten nennen das „Disaster Fatigue“, also eine Art Katastroph­en-Ermüdung – oder neuerdings auch „Pandemic Fatigue“, die Pandemie-Ermüdung.

Mario Gollwitzer, der Münchner Psychologi­e-Professor, findet diese Entwicklun­g gefährlich – denn sie macht die Menschen nach seiner Erfahrung unvorsicht­iger. Das zeigen auch die Daten aus Erfurt: Im gleichen Zeitraum, in dem die Sorge vor dem Coronaviru­s zurückgega­ngen ist, ist auch die Zahl der Menschen gesunken, die sich bewusst an die Schutz-Maßnahmen halten.

Gollwitzer und sein Team haben in Befragunge­n beobachtet, dass es Menschen leichter fällt, sich an Einschränk­ungen zu halten, wenn der Zeitraum kurz und festgestec­kt ist. Ist die Aussicht jedoch, sich auf unabsehbar­e Zeit einschränk­en zu müssen, dann fällt das umso schwerer – und kann bei andauernde­r Hoffnungsl­osigkeit sogar krank machen. Helfen könne, sich selbst Struktur zu geben, sagt Gollwitzer. Eine halbe Stunde Spaziergan­g jeden Tag etwa, ein fester Tagesablau­f. Das sei zwar kein Allheilmit­tel, betont der Psychologe. Aber es trage zu einer wichtigen Einsicht bei: die Krise für sich selbst meistern zu können.

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Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa Die Krematorie­n verzeichne­n deutlich mehr Einäscheru­ngen.

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