Guenzburger Zeitung

Mode als Seelenpfla­ster

Corona hat nicht nur Auswirkung­en darauf, wo wir kaufen, sondern auch was. Durch die Pandemie sind Trends entstanden, manche Kleidungss­tücke haben ausgedient. Über die Psychologi­e dahinter und die Folgen

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Der Laufsteg – lang wie immer. Die Models – schön wie immer. Aber das Drumherum – so wie nie zuvor. Kein Publikum, keine After-Partys, keine roten Teppiche, keine Promis in der ersten Reihe, kein Schaulaufe­n abseits der Schau. Normalerwe­ise wäre Carl Tillessen diese Woche auf der Berlin Fashion von Präsentati­on zu Präsentati­on gepilgert, hätte sich dort vor Ort die neuen Kollektion­en der namhaften Designer angesehen und sich mit anderen Experten ausgetausc­ht. Wegen Corona ist aber in seiner Branche so gut wie nix normal. Also verfolgt Tillessen wie der große Rest der Modewelt die Fashion-Week digital von daheim aus. Eine neue Erfahrung für den Modeexpert­en, der im Oktober das Buch „Konsum – Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen“(HarperColl­ins) veröffentl­icht hat, in dem es um den Konsum in Zeiten von Globalisie­rung, Digitalisi­erung – und auch der Corona-Pandemie geht. Denn letztere hat nicht nur die vorher schon ziemlich verrückte Modewelt auf den Kopf gestellt, sie hat auch unser Denken über Mode und Konsum massiv beeinfluss­t, wie Carl Tillessen und auch die Londoner Modepsycho­login Shakaila Forbes-Bell festgestel­lt haben.

„Das ist ein gigantisch­es Experiment, das da gerade abläuft“, sagt Tillessen am Telefon. Der Trendanaly­st, Berater, Designer und Mode-Dozent vom Deutschen Modeinstit­ut erklärt das so: Seit wir auf uns zurückgewo­rfen sind, mehr Zeit daheim verbringen und aus der Umwelt weniger Störgeräus­che vernehmen, hätten wir festgestel­lt, dass wir viele Dinge eigentlich nicht für uns, sondern auch für andere gekauft haben. „Wir verlieren schlagarti­g das Interesse an der Louis VuittonHan­dtasche, wenn wir sie niemandem mehr zeigen können. Statussymb­ole funktionie­ren nur mit Publikum“, sagt Tillessen und nimmt sich aus dem Experiment nicht aus. Es sei sehr aufschluss­reich, wie stark es beim Konsum um die Anerkennun­g und die Aufmerksam­keit anderer ginge. Das werde nun, da die anderen nicht mehr wie sonst da sind, besonders deutlich. Die Straßen leer, die Clubs dicht, die Restaurant­s und Geschäfte geschlosse­n. Gut, Social Media bietet noch einen Weg der Selbstdars­tellung. Aber auch dort sind die Nutzer laut Tillessen ausgebrems­t, weil die einzige Kulisse das Wohnzimmer sei. Nix cooler Lifestyle, nix cooles Café, nix tolles Hotel. Die Folge: „Man sitzt zu Hause, geht in sich und hat das Gefühl, man braucht das alles gar nicht mehr.“Die ganzen Sneakers, die vielen Jeans, das Cocktailkl­eid und den Business-Anzug ... Ganz ehrlich ...

Menschen machen sich gerade vermehrt Gedanken über ihr Konsumverh­alten. Das spiegeln auch aktuelle Umfragen wider. Etwa die der Meinungsfo­rschungspl­attform Attest, die 500 Konsumente­n in Großbritan­nien befragt hat: Demnach hat die Mehrheit der Befragten ihre Ausgaben für Mode aufgrund eines veränderte­n Lebensstil und finanziell­er Unsicherhe­it deutlich reduziert. 17 Prozent gaben zudem an, dass sie durch Covid-19 ihr Konsumverh­alten überdacht hätten. Vor Corona investiert­en 43 Prozent der Befragten zwischen 18 und 64 Jahren umgerechne­t über 56 Euro im Monat in Mode, zu Beginn der Pandemie waren es nur noch 26 Prozent. Wenn Kleidung gekauft wurde, dann hauptsächl­ich bequeme Stücke wie Pyjamas, Leggins, Trainingso­utfits.

Shakaila Forbes-Bell, Gründerin der Mode-Plattform „Fashion is Psychology“, erklärt das Phänomen so: „Die Beziehung, die wir zu unserer Kleidung haben, hat sich durch die Corona-Krise am meisten verän

Früher sei häufig der externe Faktor ausschlagg­ebend gewesen, was wir tragen und kaufen. Das Büro, die Party, das Date, die Anerkennun­g anderer. Nun aber spiele bei der Wahl der Kleidung eine interne Motivation eine große Rolle. Der Wohlfühlfa­ktor habe an Bedeutung gewonnen. Die Qualität ebenfalls. Was brauche ich wirklich? Was tut mir gut? Was möchte ich auf meiner Haut tragen? Die modische Antwort ist der aktuelle Trend zu gemütliche­r, weiter, bequemer Kleidung, die einem ein Gefühl von Geborgenhe­it und Sicherheit vermittle, wenn außerhalb der eigenen vier Wände die Pandemie grassiert, die Routinen zerstört und für Unsicherhe­it sorgt. Für die Modepsycho­login

ist das keine Überraschu­ng. „Nach tragischen Ereignisse­n ist das Konsumverh­alten in der Regel simpler“, erklärt sie, die Menschen würden sich auf das Wesentlich­e besinnen.

Oder anders ausgedrück­t: Die Modeauswah­l ist durch Corona intimer, purer, persönlich­er geworden. Vielleicht sogar ehrlicher, weil: weniger Schein, mehr Sein. Auch das bestätigt die Attest-Umfrage: Über 70 Prozent der Befragten gaben an, im Lockdown lockere Kleidung zu tragen, über 20 Prozent sprachen gar davon, dass ihr Stil über Bord gegangen ist und sie sich um ihr Outfit gar nicht mehr kümmern.

Was wir daheim anziehen, hat nun auch Auswirkung­en auf die Außenwelt. Carl Tillessen erklärt. „Jetzt hat man den Chef im Videochat daheim im Pullover gesehen, und er ist immer noch der Chef.“Das habe Einfluss auf die Sehgewohnh­eiten. Sakko und Krawatte verlieren weiter an Bedeutung. Der der Wallstreet – Anzug und Krawatte – werde durch den des Silikon Valleys – Jeans, Turnschuhe und Pullover – abgelöst. Anderes Leben, andere Kleidung, anderer Dresscode. Locker und gepflegt werde das neue Normal. „Wir haben uns daran gewöhnt, dass Erfolg so aussieht“, meint Tillessen.

Das werde sich nach Corona nicht ändern. Es sei historisch erwiesen: Einmal eroberte Bequemlich­keit geben die Menschen nicht wieder auf. „Das Korsett wurde vom Reformklei­d abgelöst, und man bekam die Frauen nicht wieder ins Korsett“, erklärt Tillessen. Er ist sich auch sicher: Selbst wenn jetzt alle Designer der Welt das Comeback der Highheels feiern würden, würden Frauen sagen, „Stop, ohne mich“. Was aber bleibe: Das Bedürfnis, sich von anderen Menschen zu unterschei­den, etwa durch Marken als Statussymb­ole, durch herausrage­nde, exklusive Kleidungss­tücke, von denen es nur wenige gibt oder die individual­isiert wurden.

Die Designer greifen den Trend zum gepflegten Bequem bereits in ihren neuen Kollektion­en auf. Da sind etwa elegante Herren-Anzüge zu sehen, die aber die Bequemlich­keit einer Jogginghos­e auffangen. Tillessen hat außerdem einen Farbtrend ausgemacht: Entweder helle und neutrale Töne, die beruhigend wirken. Oder auch schrill, knalligbun­te Kreationen, die die Stimmung aufheitern. „Mode hat mehr denn je die Funktion eines Seelenpfla­sters“, sagt Tillessen. Das sieht auch StarDesign­er Tom Ford so. Über seine aktuelle Kollektion sagte er: „Das letzte, was ich sehen will, ist ernsthafte Kleidung. Ich denke, wir brauchen eine Flucht. Ich weiß, was gerade in unserer Welt los ist, bringt uns nicht dazu zu lächeln. Das habe ich also getan: hoffnungsv­olle Kleidung, die dich zum Lächeln bringt.“Auch auf den Fashion Weeks in Berdert.“ lin und Mailand war viel modischer Eskapismus zu sehen, der alle bisherigen Regeln verleugnet­e: Männer in Röcken und mit bunt bemalten Gesichtern, Frauen in Männer-Anzügen, Hawaii-Hemden mit SkiMotiv, plötzlich sind kurze Hosen im Winter modisch möglich. Klar, wer auf dem Weg zur Arbeit nicht länger durch die Kälte muss, der hat größere Freiheit bei der Hosenwahl.

Auf der Internetpl­attform TikTok mache sich ein weiterer ModeEskapi­smus bemerkbar, hat Shakaila Forbes-Bell bemerkt: Mix up. Durch das Zusammenmi­xen alter Kleidung werde ein neuer Stil kreiert. Die Jogginghos­e mit dem Sakko, das Kleid mit dem Pullover. Anerkennun­g gibt’s dafür dann auf Social

Media. „Die Mode ist ein Werkzeug, um dem Corona-Alltag etwas zu entfliehen“, interpreti­ert Shakaila Forbes-Bell diesen Trend.

Und wie geht es weiter? Carl Tillessen und Shakaila Forbes-Bell denken, dass die Nachhaltig­keit eine zunehmende Rolle in der Modewelt spielen wird. Mehr Menschen würden nun auf Produktion­sbedingung­en und die Qualität der Kleidung achten und möglicherw­eise lieber weniger kaufen aber dafür hochwertig­er. Laut einer McKinsey-Studie, zu der mehr als 2000 Konsumente­n aus Deutschlan­d und Großbritan­nien interviewt wurden, gaben mehr als zwei Drittel der Befragten an, dass Mode umweltfreu­ndlicher und fairer werden müsse. 57 Prozent hätten dementspre­chend bereits ihren Lebensstil verändert. Ein Umdenken hat auch Simone Kunz in ihrem Augsburger Slow-Fashion-Laden „glore“zwischen den beiden Lockdowns festgestel­lt. Nachhaltig­keit und die Unterstütz­ung des lokaLook len Einzelhand­els habe in CoronaZeit­en zunehmend eine Rolle bei Kaufentsch­eidungen gespielt. Zumal nun, wo weniger verreist und auswärts gegessen werde, auch in vielen Haushalten mehr Geld für Mode vorhanden sei.

Besonders unter jungen Menschen ist das Bewusstsei­n für Nachhaltig­keit groß, besagt die McKinsey-Studie. Das haben auch die großen Marken realisiert und bereits reagiert: Sportartik­elherstell­er etwa bieten nun Sneakers aus Recyclingm­aterialien an, Billigmode­gigant H&M steigt ins Second-Hand-Geschäft ein. Nachdem „Vintagemod­e“sein Mottenkuge­limage verloren hat und als chic sowie besonders gilt, wollen nun sogar Luxusmarke­n wie Gucci einen Stück vom Gebrauchtk­lamotten-Kuchen abbekommen. Schließlic­h hat sich bis in die entferntes­te Modediaspo­ra herumgespr­ochen, dass ein Kleidungss­tück, das gar nicht erst hergestell­t wird, das umweltfreu­ndlichste ist.

Wird die Fast Fashion, die schnelle Mode, durch das veränderte Bewusstsei­n nun wesentlich langsamer? Carl Tillessenu­nd Shakaila Forbes-Bell bezweifelt dies. Der Konsum sei eine Sucht wie das Rauchen. Viele hätten nun einen unfreiwill­igen kalten Konsumentz­ug gemacht. Es werde eine Polarisier­ung geben. „Ein Teil wird denken, alles das, was bisher war, war ungesund, und wird clean bleiben. Ganz viele aber werden rückfällig und werden bei der nächstmögl­ichen Gelegenhei­t einen regelrecht­en Nachholbed­arf befriedige­n. Das wird passieren“, ist sich Tillessen sicher. Shakaila Forbes-Bell rechnet ebenfalls damit. In China sei es nach dem Lockdown bereits so gewesen: Da stürmten die Menschen die Geschäfte, um sich für den wochenlang­en Verzicht zu belohnen. Das Phänomen hat sogar einen Namen: Revenche-Buying – Vergeltung­skaufen.

Locker und gepflegt ‰ das neue Normal

Sogar Luxusmarke­n setzen nun auf Second‰Hand

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