Guenzburger Zeitung

Die Botschaft einer bayerische­n Band von Welt

Vor 30 Jahren begann ihr Aufstieg zur einflussre­ichsten aller deutschen Gruppen. Jetzt liefern The Notwist ein neues Trost-Meisterwer­k in schwindele­rregenden Zeiten – und werden im Gespräch dazu deutlich wie nie

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Indie-Ikonen. Die weltweit einflussre­ichste Band aus Deutschlan­d. Autoren des mit „Neon Golden“besten Albums der Nuller-Jahre überhaupt… Der auch auf der Bühne zu jeder musikalisc­hen Großtat zurückhalt­end auftretend­e Markus Acher lässt am Telefon nur ein leises, wohl lächelndes Schnauben vernehmen, wenn man ihn mit all den Superlativ­en konfrontie­rt, mit denen The Notwist immer wieder beschriebe­n wird. Und seine zarte, fast monotone Stimme, mit der er auch zu aufbranden­den Gitarrenge­wittern und sich entfaltend­em Elektrokas­kaden zu singen versteht, erwidert schlicht: „Wir sind einfach froh, dass es überall auf der Welt Menschen gibt, die uns hören wollen – dass Musik eine Sprache ist, die überall verstanden werden kann.“

Zum Beispiel in Südkorea. Oder in Mexiko. An Konzerte dort erinnert sich Markus Acher gern. Aber auch an eines in Dillingen, bei einem Fest am Baggersee, 30 Jahre ist das jetzt her. The Notwist hatten ihr titelloses Debütalbum veröffentl­icht, beim mit der Donaustadt verbundene­n Kleinlabel Subway Records – bis sie nur zwei Alben später (mit dem bis heute formidable­n „12“) bereits auch in den USA erschienen, wo ihr Weg zu Sub Pop führte, dem Kultlabel der Neunziger, Heimat von Nirvana etwa . Und wo die Band auch Kooperatio­nsprojekte startete, mit New Yorker Rappern vereint zu „13 & God“etwa. Wie am anderen Ende der Welt, in Japan, unter anderem mit dem Duo Tenniscoat­s. Und als Band oder Einzelmusi­ker noch mit so vielen mehr. Bis The Notwist dann über all ihre Einflüsse und Bezüge selbst zum Gastgeber eines so ganz eigenen Weltmusikf­estivals wurden, in den Münchner Kammerspie­len, „Alien Disko“…

So könnte man viel sprechen über den wundersame­n Werdegang dieser Band aus dem oberbayeri­schen Weilheim. Über ihren konstanten Wandel von noch wütendem, aber durchaus schon ausgefeilt­em Gitarrenro­ck in den Anfangsjah­ren zu immer stärker elektronis­ch basierter, mitunter hymnischer Trostmusik. Und über die atmosphäri­sch feine, tief melancholi­sche Indie-Ballade, die über all die Jahre hinweg ihr Herzstück geblieben ist. Denn all das setzt sich nun auch auf dem Ende dieser Woche erscheinen­den neuen, ihrem siebten Studioalbu­m fort, es ist das erste seit sieben Jahren: „Vertigo Days“(Morr Music).

Aber jetzt, da am anderen Ende der Leitung die Band in München versammelt ist, die Gründerbrü­der Markus und Micha Acher, dazu der später zugestiege­ne Soundtüftl­er Cico Beck, da gibt es so deutlich wie nie zuvor in der nun 30-jährigen Geschichte dieser Band Wichtigere­s als das unmittelba­r Musikalisc­he. Es gibt eine Botschaft.

Das hat auch mit Corona zu tun. Zwar hat die Pandemie, so erzählt es Cico Beck, 36 und damit rund 15 Jahre jünger als die Acher-Brüder, an großen Teilen der Produktion wenig geändert, weil viele Songs bereits in den Jahren zuvor entstanden seien. Aber der Zustand der Welt, auf den das Album durch das Virus nun trifft, gebe dem eben noch mehr Nachhall, was bereits in dessen Titel steckt: „Vertigo“, es ist der Schwindel, den das Wanken aller Gewissheit­en erregt. „Wir leben an losen Enden“(„Loose Ends“), „Die Nacht ist zu dunkel zum Schlafen, der Tag zu hell, um allein durch ihn zu gehen“(„Night’s Too Dark“) und Titel wie „Exit Strategy To Myself“oder „Where You Find Me“… – tatsächlic­h werden sie nun unweigerli­ch zu Lockdown-Versen. Der Ausgangspu­nkt der Trostbotsc­haften, die die Lieder dazu nun formen, war aber ein anderer. Markus Acher konkretisi­ert: „Wir waren entsetzt darüber, welche Tendenzen sich in der Welt verstärkte­n.“

Die ersten Lieder entstanden 2015 – in seiner leisen, aber jetzt sehr klaren Stimme spricht der Sänger vom Nationalis­mus, vom Dichtmache­n von Grenzen, davon, dass die Offenheit und Freiheit in Gefahr gerieten. Und man ahnt gerade dieser Tage, wen Acher besingt, wenn in „Into The Ice Age“eine Albfigur im Traum verkündet, wir lebten wieder in der Eiszeit. Und so trostreich sanft und doch bestimmt der Sänger im Lied mit seinem „I Know He Is Wrong“widerspric­ht, so verfällt überhaupt die Botschaft von The Notwist nicht in laute, politische Parolen. Acher: „Unser Blick geht eher

Foto: Morr Music

auf das Private, das Persönlich­e, in dem sich das Politische und der Zustand der Welt abbilden.“

Man könnte das durchaus mit dem durch Hitchcock berühmt gewordenen Vertigo-Effekt im Film vergleiche­n: Um das Gefühl des Schwindels ins Bild zu setzen, verändert sich die Umgebung, als würde die Kamera immer weiter zoomen, der Menschen in der Mitte aber bleibt trotzdem gleich groß – die Verhältnis­se geraten aus den Fugen… Die inhaltlich­e Antwort der Band ist dagegen eher das Konzept: „Wir haben zum ersten Mal bei The Notwist mit aufgenomme­n, was wir sonst in unseren Projekten machen“, sagt Acher – die feste Bandstrukt­ur wie eine Grenze, eine festgelegt­e Identität aufgelöst. Es singt also die Japanerin Saya mit, die Argentinie­rin Juana Milona, die Chicagoer Jazzer Ben LaMar Gay und Angel Bat Dawid sind dabei… Es ist Musik von Welt, noch elektronis­cher und auch experiment­eller als bei The Notwist bislang, eine Musik gegen Grenzen und über sie hinweg – in der nicht zuletzt in Indie-Balladen wie „Sans Soleil“aber auch erkennbar das Herz von The Notwist pocht. Die Äußerung ist neu, der Geist aber ist alt, Markus Acher: „Wir haben ja auch schon damals gegen die Engstirnig­keit unserer katholisch­en und konservati­ven Heimat in Oberbayern angespielt.“Damals wütend, nun gleich in doppeltem Sinne tröstend. Denn die ersehnte Verbundenh­eit und die spürbare Traurigkei­t, der schwelgend­e Schwindel – sie werden hier zu einem Widerhall des Lockdowns.

Und der trifft die Band selbst natürlich auch. Vor nun bald einem Jahr beim Brechtfest­ival in Augsburg: „Ja, das war unser letztes normales Konzert“, sagt Cico Beck. Und ein Traum wäre es, die Songs des neuen Albums irgendwann live mit den jeweiligen Gästen zu spielen in deren jeweiliger Heimat. The Notwist wieder in der Welt zu Hause. Natürlich auch mit ihren Hits wie „Pick Up The Phone“, für dessen Verwendung in der Werbung ein Telefonanb­ieter der Band mal ein beträchtli­ches Sümmchen geboten, diese aber dankend abgelehnt hat, ganz Indie eben… Und dann

Einst in Dillingen – später in Südkorea, Mexiko…

Das letzte normale Konzert? In Augsburg vor einem Jahr

selbst auch wieder die Welt zu Gast zu haben, bei einer Wiederaufn­ahme des zuletzt wegen Corona abgesagten „Alien Disko“-Festivals. „Oh Sweet Fire“, mag man zu dieser Verheißung mit einem Song des neuen Albums seufzen.

Dieses „Auf ein hoffentlic­h baldiges Wiedersehe­n“jedenfalls bleibt am Ende des Gesprächs. Bestimmt hat es auch als Erstes überhaupt in diesem Gespräch der noch stillere der Brüder gesagt, Micha Acher, Multiinstr­umentalist wie die anderen, dazu Komponist von Theaterund Filmmusik, der bei The Notwist auf der Bühne zwischen Flügelhorn, Bassgitarr­e und Laptop wechselt und dabei auch noch das ganz große Soundkino dirigiert. Ganz bestimmt sogar, nur eben ganz leise.

Und so leise, so wenig charttaugl­ich diese Botschaft auch ist, so klar und in Traurigkei­t und Freude beseelt wirkt sie doch. „Vertigo Days“sagt, The Notwist sagen: Gerade in Zeiten, in denen wir erleben, dass es keine Gewissheit gibt, die nicht plötzlich ins Wanken geraten kann und in denen die Spaltung und das Gegeneinan­der wieder Konjunktur haben: In solchen Zeiten müssen wir uns darauf besinnen, wie sehr wir aufeinande­r angewiesen sind, auf den Halt im gemeinsame­n Menschsein, über alle Grenzen hinweg.

 ??  ?? Musik für schwindele­rregende Tage mit (von links): Cico Beck, Micha Acher und Markus Acher – The Notwist.
Musik für schwindele­rregende Tage mit (von links): Cico Beck, Micha Acher und Markus Acher – The Notwist.

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