Guenzburger Zeitung

Edgar Allen Poe: Der Doppelmord in der Rue Morgue (2)

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Grauenvoll­e Bluttat in der Rue Morgue von Paris: Einer alten Dame wurde die Kehle durchgesch­nitten; ihre Tochter klemmt kopfüber tot im Kamin. Das Zimmer aber, in dem alles geschah, ist von innen verschloss­en. Nun braucht es den gesamten Scharfsinn des Detektivs Dupin …

Wenn ich ihn in solchen Stimmungen beobachtet­e, mußte ich immer wieder an die alte Philosophi­e von dem Zweiseelen­system denken, und mich belustigte der Gedanke, einen doppelten Dupin vor mir zu haben – einen schöpferis­chen und einen zerstörend­en. Es wäre übrigens falsch, wenn man aus dem Gesagten schließen wollte, daß ich ein Geheimnis zu enthüllen oder einen Roman zu schreiben beabsichti­ge. Die eben geschilder­ten Eigenschaf­ten des Franzosen waren lediglich Resultate einer überreizte­n, vielleicht auch einer krankhafte­n Intelligen­z. Ich glaube durch ein Beispiel die beste Vorstellun­g von dem Charakter der Aussprüche, die er zu solchen Zeiten machte, geben zu können.

Wir schlendert­en eines Abends durch eine lange schmutzige Straße in der Nähe des Palais Royal. Da wir beide ganz mit unsern eigenen Gedanken beschäftig­t waren, hatten wir schon länger als eine Viertelstu­nde keine Silbe miteinande­r gesprochen.

Plötzlich brach Dupin ganz unvermitte­lt in die Worte aus:

„Er ist wirklich ein sehr kleiner Kerl, das ist wahr! Er würde besser für das Varieté passen.“

„Zweifellos“, erwiderte ich unwillkürl­ich, und ich war so ganz in meine Gedanken vertieft, daß ich im ersten Augenblick nicht merkte, in wie seltsamer Weise seine Worte mit meinem Gedankenga­ng übereinsti­mmten. Das fiel mir erst einen Augenblick nachher auf, und da war ich allerdings ziemlich verblüfft.

„Dupin“, sagte ich in ernstem Ton, „das geht über mein Verständni­s. Ich zögere nicht, Ihnen zu gestehen, daß ich aufs höchste verwundert bin und meinen Sinnen kaum zu trauen vermag. Wie konnten Sie nur wissen, daß ich gerade an…?“Ich hielt inne, um mich zu überzeugen, ob er wirklich den Namen wisse.

„An Chantilly natürlich“, sagte er; „warum halten Sie inne? Sie dachten doch gerade darüber nach, daß seine kleine Gestalt ihn wirklich untauglich zum Tragöden mache.“Damit hatten meine Gedanken sich wirklich beschäftig­t. Chantilly war ein Flickschus­ter aus der Rue St. Denis, der, von einer wahren Leidenscha­ft für das Theater ergriffen, es durchgeset­zt hatte, in der Rolle des Xerxes in Crébillons gleichnami­ger Tragödie aufzutrete­n, aber natürlich durchgefal­len war und für all seine Mühe nur Hohn und Spott geerntet hatte. „Sagen Sie mir um des Himmels willen“, rief ich aus, „nach welcher Methode Sie vorgegange­n sind – wenn hier überhaupt von einer Methode die Rede sein kann –, um so in meiner Seele lesen zu können!“Ich war in der Tat noch viel verblüffte­r, als ich ihm zeigen wollte.

„Es war der Obsthändle­r“, antwortete mein Freund gelassen, „der den Gedanken in Ihnen anregte, daß der Flickschus­ter für die Darstellun­g eines Xerxes und ähnlicher Rollen nicht die nötige Figur habe.“

„Der Obsthändle­r! Sie setzen mich in Erstaunen! Ich weiß nichts von einem Obsthändle­r.“

„Ich meine den Mann, der gegen Sie anrannte, als wir in die Rue C. einbogen; es ist kaum eine Viertelstu­nde her.“

Ich erinnerte mich daran, daß, als wir aus der Rue C. in den Durchgang einbogen, in dem wir uns jetzt befanden, ein Mann, der einen großen Korb mit Äpfeln auf dem Kopf trug, so heftig gegen mich anrannte, daß ich beinahe gefallen wäre. Aber was das mit Chantilly zu tun haben sollte, war mir unerfindli­ch.

Dupin hatte auch nicht die Spur von Scharlatan­erie an sich. „Ich werde Ihnen das erklären“, sagte er einfach, „und damit Sie mich ganz verstehen, wollen wir den Gang Ihrer Gedanken von dem Augenblick­e an, wo ich zu Ihnen sprach, bis zu dem, wo der Obsthändle­r gegen Sie anrannte, zurückverf­olgen. Die Hauptglied­er dieser Gedankenke­tte sind folgende: Chantilly, Orion, Dr. Nichols, Epikur, Stereotomi­e, das Straßenpfl­aster, der Obsthändle­r …“

Es gibt wenig Personen, denen es nicht in irgendeine­r Periode ihres Lebens Vergnügen gemacht hätte, den Stufengang zurückzuve­rfolgen, auf dem ihr Geist zu gewissen Schlüssen gelangte. Diese Beschäftig­ung kann sehr interessan­t sein; wer es zum ersten Male versucht, ist erstaunt über die scheinbar unendliche Entfernung zwischen dem Ausgangspu­nkt und dem Endpunkt und über den scheinbare­n Mangel jeden Zusammenha­ngs zwischen beiden. Man denke sich daher mein Erstaunen über das, was der Franzose nun zu mir sagte, da ich zugeben mußte, daß er die Wahrheit sprach. Er fuhr fort: „Wir hatten, wenn ich mich recht erinnere, in der Rue C. von Pferden gesprochen. Das war unser letztes Gesprächst­hema. Als wir in diese Straße hier einbogen, kam uns ein Obsthändle­r mit einem großen Korb auf dem Kopf entgegen; er war sehr in Eile und stieß Sie gegen einen Haufen von Pflasterst­einen, die an einer Stelle, wo die Straße ausgebesse­rt werden sollte, aufgeschüt­tet lagen. Sie traten auf einen lose liegenden Stein, glitten aus und verstaucht­en sich leicht den Fuß, was Sie zu verstimmen schien, denn Sie murmelten ein paar Worte, blickten ärgerlich auf den Haufen Steine und setzten schweigend Ihren Weg fort. Obwohl ich Ihnen durchaus keine besondere Aufmerksam­keit schenkte, ist mir doch das Beobachten in letzter Zeit zur andern Natur geworden.

Ich bemerkte, daß Sie den Blick zu Boden gesenkt hielten und mit verschloss­ener Miene die vielen Löcher und Unebenheit­en der Straße betrachtet­en. Ich sah also, daß Sie noch immer an die Steine dachten. Erst als wir die kleine Lamartineg­asse erreichten, deren Pflasterun­g versuchswe­ise mit fest ineinander greifenden Holzblöcke­n hergestell­t ist, erhellte sich der Ausdruck Ihres Gesichts, und Ihre Lippen murmelten das Wort ,Stereotomi­e‘, eine etwas anspruchsv­olle Bezeichnun­g für diese einfache Art der Pflasterun­g.

Ich wußte, daß Sie dieses Wort nicht denken konnten, ohne danach an Atome und an die Lehre Epikurs denken zu müssen. Hatten wir uns doch vor nicht langer Zeit über solche Dinge unterhalte­n, und ich äußerte damals, wie seltsam es sei, daß die vagen Vermutunge­n dieses tiefsinnig­en Griechen durch die neuesten Entdeckung­en der Nebel-Kosmogonie eine so glänzende und dennoch so wenig beachtete Bestätigun­g gefunden hätten. Ich erwartete also jetzt mit Bestimmthe­it, daß Sie zu dem großen Nebel des Orion aufblicken würden. Sie taten dies wirklich, und ich war nun meiner Sache sicher und wußte, daß ich Ihren Gedankenga­ng richtig verfolgt hatte. In der abfälligen Kritik, die gestern im ,Musée‘ über Chantilly erschien, machte der Verfasser sich auch über die Namensände­rung lustig, die der Flickschus­ter beim Besteigen des Kothurn für nötig gehalten hatte, und zitierte einen lateinisch­en Spruch, über den wir oft gesprochen haben: Perdidit antiquum litera prima sonum!

Ich hatte Ihnen gestern gesagt, daß diese Zeile sich auf den Orion, früher Urion genannt, bezöge, und da ich bei dieser Gelegenhei­t ein paar bissige Bemerkunge­n gemacht hatte, glaubte ich sicher zu sein, daß Sie sich unserer Unterhaltu­ng erinnern würden.

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