Guenzburger Zeitung

Christa Wall und ihr großes Sinfonieor­chester

Seit 50 Jahren spielt die Günzburger­in an der Orgel und hat mehr als 10000 Gottesdien­ste begleitet. Was sie an dem Instrument des Jahres 2021 so sehr schätzt. Und warum sie eine Christmett­e nie vergessen wird

- VON SANDRA KRAUS

Seit 50 Jahren spielt die Günzburger­in an der Orgel. Was sie an dem Instrument des Jahres 2021 so sehr schätzt.

Günzburg Was haben Fischotter, Stechpalme und Orgel gemeinsam? Sie stehen im Jahr 2021 ganz besonders im Fokus als Wildtier, Baum und Instrument des Jahres. Sind es in der Natur oft die vom Aussterben bedrohten Arten, die mit ihrer Wahl in den Mittelpunk­t gerückt werden, geht es bei der Orgel, die oft auch Königin der Instrument­e genannt wird und in der Kirchenmus­ik eine zentrale Rolle spielt, um den Erhalt der deutschlan­dweit 50000 Orgeln, um die Wertschätz­ung des Orgelspiel­s und des Orgelbaus.

Eine vergleichs­weise junge Orgel steht in der Pfarrkirch­e St. Martin in Günzburg. 1970 erbaute die Orgelbauwe­rkstatt Kubak aus Augsburg die Orgel auf der Westempore der Kirche. Fast genauso lange ist Christa Wall Organistin von St. Martin. Erst kürzlich bekam sie vom Bischof Nadel, Urkunde und Blumenstra­uß für ihr 50. Jubiläum als Organistin. Der Einstieg ins Orgelspiel kam unerwartet.

Christa Wall lernte Anfang der 1970er-Jahre Akkordeon, lieber hätte sie Klavier erlernt, aber das sei nicht drin gewesen. „Eines Tages sagte Stadtpfarr­er Gündele in der Schule zu mir, dass ich am Abend in der Messe drei Lieder spielen sollte. Da habe ich geübt und am Abend Blut und Wasser geschwitzt.“Aus diesem aufregende­n Auftakt an diesem gewaltigen Instrument wurde ein Leben mit und an der Orgel. 10000 Gottesdien­ste waren es mit Sicherheit, die Wall begleitete.

Mit Schwung setzt sich die pensionier­te Lehrerin an den Spieltisch der Orgel und erklärt nebenbei, dass man die Pedale mit jedem Schuhwerk spielen könne, notfalls auch in Strümpfen. Ohne groß hinzuschau­en, finden die Hände ihren Platz auf den beiden Manualen: das erste und untere für das Rückpositi­v, das zweite und obere für das Hauptwerk der Orgel. Die entspreche­nden Schalter werden für die Registrier­ung gedrückt.

Curt Sachs (1881-1959), Begründer der wissenscha­ftlichen Instrument­enkunde, definierte die Orgel als Aerophon (Lufttöner) aus skalenmäßi­g gestimmten Eintonpfei­fen, die durch ein Gebläse gespeist und durch Klaviature­n eingeschal­tet werden. 1218 solcher Pfeifen sind in der Orgel in der Martinskir­che in Hauptwerk, Rückpositi­v und Pedal verbaut. Jedes dieser drei Werke enthält diverse Register, um die verschiede­nsten Klangfarbe­n erzeugen zu können.

Wer am Spieltisch der Orgel Platz nimmt, hat quasi ein großes Sinfonieor­chester vor sich und kann sich einer Fülle von Klangfarbe­n bedienen, die zum Beispiel Pommer 16’, Rohrflöte 8’, Quint 1 1/3’, Subbass 16’ oder Nachthorn 4’ genannt werden. „Als Erstes schaue ich, wie viele Gottesdien­stbesucher da sind. Dann entscheide ich, welche Register ich benutze. Wenn ich sie nicht singen höre, muss ich überlegen, ob die Orgel zu laut ist oder ob sie das Lied vielleicht nicht können. Auf jeden Fall muss ich darauf reagieren und leiser tun.“

Denn eines ist Christa Wall klar, die Orgel ist Diener der Liturgie und ihr untergeord­net. Zeitgeber ist das Geschehen am Altar und Ambo. Stadtpfarr­er Christoph Wasserrab sieht das genauso und sagt dazu: „Das Orgelspiel wertet die Feier auf. Ohne Musik ist es doch recht tot.“Jeder Organist hat es in der Hand, passend zu Tag und Anlass zu spielen. Durch gekonntes Registrier­en ertönt an den Hochfesten WeihWer nachten, Ostern und Pfingsten ein ungeahntes musikalisc­hes Erlebnis, während zur Werktagsme­sse die Orgel nicht großtut, wie es Christa Wall in ihrer resoluten Art nennt. Orgeln erzeugen die tiefsten und höchsten, die lautesten und die leisesten Töne.

Zu den bekanntest­en Orgelkompo­nisten gehört Johann Sebastian Bach. Christa Walls Lieblingss­tück „Voluntary X“komponiert­e John Alcock (1705-1806). Applaus erwartet kein Organist, er ist einer der vielen Mitwirkend­en an der Liturgie, oft allein auf der Orgelempor­e, über kleine Spiegel mit dem Geschehen unten in der Kirche verbunden. Je nachdem, wie es dort unten bei Gabenberei­tung oder Kommuniona­usteilung läuft, wird das freie Spiel verlängert oder gekürzt. Improvisat­ion will gelernt sein.

Nachdem die Pandemie gerade den Gesang verbietet, sind die Organisten angehalten, so zu spielen, dass die Gemeinde nicht zum Mitsingen animiert wird. Für die Auswahl der Lieder gibt es vom Bistum Vorgaben, Organistin Christa Wall schaut sich das durch und tauscht je nachdem auch Lieder aus. Ihre Vorschläge gehen an Stadtpfarr­er Wasserrab, der am musischen Gymnasium Violine gelernt hat, zur endgültige­n Entscheidu­ng.

In den 50 Jahren als Organistin hat Christa Wall nicht nur einige Pfarrer erlebt. Nie vergessen wird sie, als sie vor ein paar Jahren fast die Christmett­e um Mitternach­t verschlafe­n hätte. „Ein Ministrant rief um zehn vor zwölf an und fragte, wo ich denn sei. Pünktlich war ich trotzdem noch.“Oder als in der Frauenkirc­he der Blasbalg defekt war und ein nervtötend­es Pfeifgeräu­sch nicht aufhören wollte.

Damit Christa Wall erst gar nicht in Versuchung kommt, immer das Gleiche zu spielen, führt sie genau Buch, wann sie was gespielt hat. Tägliches Üben und das Einstudier­en von neuen Liedern gehören für die erfolgreic­he Absolventi­n der C-Ausbildung für den nebenberuf­lichen Dienst als Organistin und Chorleiter­in bis heute dazu. „Nervös bin ich schon lange nicht mehr, aber immer konzentrie­rt, denn es gilt, in der Zeit zu bleiben. Für Musikwünsc­he bei Hochzeiten bin ich offen, aber ich sage ganz klar, nicht jedes Stück ist für Orgel geeignet. Das spiele ich dann nicht.“

Für Stadtpfarr­er Wasserrab ist das Orgelspiel ein wichtiger Teil der Liturgie, nicht Beiwerk und kein Pausenfüll­er, aber auch kein Konzert. Als Instrument des Jahres soll die Orgel in ihrem Variantenr­eichtum innerhalb und außerhalb des kirchliche­n Einsatzes beleuchtet werden. Wer Glück hat, erlebt bei einem Besuch der Martinskir­che jenseits von Gottesdien­sten ganz privaten Orgelgenus­s, wenn Christa Wall oder andere Kirchenmus­iker oben am Spieltisch der Orgel ihr Bestes geben.

» Weitere Fotos und ein Video mit Orgel‰ musik von Christa Wall finden Sie unter guenzburge­r‰zeitung.de/lokales

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Foto: Sandra Kraus Es ist eine komplexe Angelegenh­eit im Verborgene­n. Mit Händen und Füßen bedient Christa Wall die Orgel in der Kirche St. Mar‰ tin, die auch als „Königin der Instrument­e“bezeichnet wird.

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