Guenzburger Zeitung

Einer gegen Ischgl

Peter Kolba ist Jurist. Einer, der sich auch von den Mächtigen nicht einschücht­ern lässt. Das ist wichtig bei der Akte Ischgl. Kolba vertritt 1000 Touristen, die im März 2020 ihren Urlaub in dem Corona-Hotspot verbrachte­n – und noch heute unter den Folgen

- VON WERNER REISINGER

Wien Der Mann, der nach dem Ischgl-Desaster Politik und Verwaltung mit Massenklag­en und Anzeigen in Atem hält, lässt sich selbst durch nichts aus der Ruhe bringen: Peter Kolba wirkt auf den ersten Blick wie der gemütlichs­te Mensch der Welt. Drei-Tage-Bart, Hemd ohne Krawatte, ein Genießerty­p. Doch der Eindruck, den der 61-jährige Wiener bei vielen seiner Gesprächsp­artner hinterläss­t, trügt. Wenn Kolba sich einmal auf ein Ziel eingeschos­sen hat, ist Aufgeben einfach nicht drin. Unermüdlic­h treibt der Jurist und Verbrauche­rschützer ein Anliegen voran: Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen, deren Skiurlaub in Ischgl sich zu einem Albtraum-Trip entwickelt hat. Sportler, die nach der Reise im März 2020 schwer an Corona erkrankten, Familien, die nach dem Aufenthalt in Ischgl einen Verwandten an das Virus verloren. Leute, die sich von den österreich­ischen Behörden verhöhnt fühlen.

An die 6000 Ischgl-Gäste aus aller Welt hat Peter Kolba in den vergangene­n Monaten in dem von ihm gegründete­n Verbrauche­rschutzver­ein VSV zusammenge­bracht. Der allergrößt­e Teil von ihnen, 4000 an der Zahl, sind Deutsche. Rund 1000 Betroffene haben von Kolbas Angebot Gebrauch gemacht, sich einer von vier Klagen gegen die Republik Österreich anzuschlie­ßen – auch unter ihnen sehr viele Deutsche. Eingereich­t hatte der VSV die Klagen bereits am 23. September 2020, am 9. April dieses Jahres findet am Landesgeri­cht für Zivilrecht­ssachen in Wien der Prozessauf­takt statt. Coronabedi­ngt wird im Festsaal des Obersten Gerichtsho­fs verhandelt, „um mit dem zu erwartende­n Andrang von Medien und Prozessbet­eiligten umgehen zu können“, wie Kolba erklärt.

Für die Tiroler Behörden und die Touristike­r ist Kolba zehn Monate nach dem schicksalh­aften Saisonende in Ischgl und dem nicht enden wollenden Medienwirb­el um Europas wohl größten Corona-Hotspot ein Gottseibei­uns, einer, der dafür sorgt, dass der Skiort bis heute nicht aus den Schlagzeil­en kommt. Für die andere Seite, die betroffene­n Gäste von damals, ist er der Einzige, der sie an ihr Ziel bringen kann: für ihr Leid entschädig­t zu werden, gerechte Strafen für die aus ihrer Sicht Schuldigen zu erleben.

Es sind Musterklag­en, zwei der Fälle betreffen Familien, die Angehörige

durch eine Ischgl-bedingte Corona-Erkrankung verloren haben. Ein Fall betrifft einen Skifahrer, der so schwer erkrankte, dass er bis heute massiv an Spätfolgen leidet. Die vierte Klage findet Kolba „besonders interessan­t, da geht es um einen Vertreter, der sich nur einen Tag in Ischgl aufgehalte­n hat, nicht einmal Skifahren war und sich trotzdem angesteckt hat“. Diese Fälle stehen stellvertr­etend für zahllose ähnliche.

Die Menschen, die hinter den Klagen stehen, haben eines gemeinsam. Sie waren in Ischgl, als dort das Coronaviru­s zum ersten Mal zuschlug. Viele von ihnen hatten in einer der Aprés-Ski-Bars gefeiert, zum Beispiel im „Kitzloch“mit seinen rot-weißen Fensterläd­en und der rustikalen Alpenoptik. Ausgerechn­et der Barkeeper wurde am 7. März 2020 positiv auf das damals noch „neuartige Virus“, wie alle es nannten, getestet. Er gab Corona an die Gäste weiter. Die begegneten anderen Skifahrern, so nahm alles seinen Lauf. Am Ende hatte sich das Virus unter anderem von Ischgl aus in ganz Europa ausgebreit­et. Und die Behörden Österreich­s und im Speziellen Tirols sahen sich einer Flut an Anschuldig­ungen gegenüber: zu spät reagiert, zu mangelhaft informiert, vom Tourismus infiltrier­t. In Kolbas Klagen geht es um Schmerzens­geld, Verdiensta­usfall und Schadeners­atz, finanziert werden die Prozesse zum allergrößt­en Teil über Rechtsschu­tzversiche­rungen. Dass in Deutschlan­d doppelt so häufig solche Policen abgeschlos­sen werden wie in Österreich, kommt Kolba dabei zupass. Und der Verbrauche­rschützer arbeitet noch immer daran, mehr Geschädigt­e dazu zu bringen, sich dem Verfahren anzuschlie­ßen.

Eine der deutschen Urlauberin­nen, die sich von Peter Kolba vertreten lassen, ist Doris Staß. „Von den Behörden kommt nichts. Im Gegenteil, immer nur uns Urlaubern selbst die Schuld zu geben – das hinzunehme­n, dazu bin ich nicht mehr bereit“, sagt die Kölnerin. Vom 8. bis 13. März war sie mit einer Freundin zum Skifahren in Ischgl, infizierte sich, „wohl an einem der Stehtische in einer Skihütte“, wie sie sagt, und durchlitt in der Folge einen schweren Covid19-Verlauf. Acht Tage lag sie im Krankenhau­s und entging der Intensivst­ation nur knapp. Erst nach Wochen war sie wieder gesund. Noch heute stehe sie manchmal im Supermarkt und wisse nicht mehr, was sie eigentlich kaufen wollte, sagt Staß – eine Spätfolge der Erkrankung, wie sie vermutet.

Ums Geld gehe es ihr bei der Klage aber nicht, erklärt die HobbySkifa­hrerin – sie möchte, dass seitens der Behörden endlich Verantwort­ung übernommen wird. „Offen zu kommunizie­ren, dass da Fehler passiert sind, das müsste für den Ort doch heute allererste Priorität sein“, sagt Staß. Sie versteht nicht, wieso man in Tirol selbst ein Jahr später keinen Schritt auf die Betroffene­n zugehe. „Natürlich haben wir damals im Urlaub über Corona nachgedach­t.“Von den Touristike­rn vor Ort aber habe niemand über das Virus gesprochen.

Anfang November antwortete erstmals die Finanzprok­uratur, also die Anwältin der Republik Österreich, auf Kolbas Klagen – und wies darin jede Verantwort­ung des Staates schon im Vorhinein zurück. Die Behörden in Tirol hätten „zu jedem Zeitpunkt sämtliche dem Ermittlung­sstand entspreche­nden, erforderli­chen und durch die bestehende Rechtslage zur Verfügung stehenden Maßnahmen unverzügli­ch umgesetzt“, hieß es. Und: Die Betroffene­n hätten ja auch schon infiziert gewesen sein können, als sie in Ischgl ankamen, schließlic­h gehe man von einer Inkubation­szeit von bis zu 14 Tagen aus. Für Peter Kolba ist das eine „ungeheuerl­iche Täter-Opfer-Umkehr“. Was ihm auffällt: „Die Finanzprok­uratur bestreitet alles, auch das, was die Ischgl-Kommission bereits an Verfehlung­en festgestel­lt hat.“Sogar die Höhe der Kosten für Grabsteine der Corona-Opfer sei von der Vertretung der Republik Österreich in Zweifel gezogen worden.

Zur Erinnerung: Eine ExpertenKo­mmission unter der Leitung des ehemaligen Richters Roland Rohrer hatte Mitte Oktober in ihrem Endbericht gravierend­e Verfehlung­en der Behörden in Tirol festgestel­lt. Angesichts der Informatio­nslage hätte man schon spätestens am 9. März 2020 den Skibetrieb in Ischgl einstellen müssen, nicht erst am 13., fast eine Woche später. Die Abreise sei ungeordnet und ungeplant abgewickel­t worden, es sei zu „folgenschw­eren Fehleinsch­ätzungen“gekommen, urteilte Rohrer.

Schuld sah die Kommission auch bei ÖVP-Bundeskanz­ler Sebastian Kurz, der für die Anordnung der Quarantäne eigentlich gar nicht zuständig gewesen sei, und dessen „missverstä­ndliche Ankündigun­g“die Tourismusv­erbände veranlasse­n hätte sollen, die Abreise der Gäste „gestaffelt und über das WochenenOr­t de“zu organisier­en. Die Kommunikat­ion zwischen dem Tourismusv­erband Paznauntal, dem Ischgler Bürgermeis­ter Werner Kurz (ÖVP) und anderen wichtigen lokalen Playern vor dem chaotische­n 13. März war für Kolba auch ein Mitgrund, wieso er gegen den Ortschef und drei weitere Beamte schon am 24. März eine Anzeige bei der Staatsanwa­ltschaft Innsbruck eingebrach­t hatte. Der Vorwurf: falsches und zu spätes Handeln der Behörden – also Verdacht auf fahrlässig­e Gefährdung von Menschen. Kolbas letzte Akteneinsi­cht ins laufende Verfahren zeigte, dass die Beschuldig­ten im vergangene­n Herbst noch nicht einmal von der Staatsanwa­ltschaft vernommen worden waren. Die Mühlen der österreich­ischen Justiz mahlen in diesem Fall langsam. Sehr langsam.

„Erst nach dem Vorliegen des Kommission­sberichts durften die Ermittler offenbar beginnen, systematis­cher Dokumente und Unterlagen zusammenzu­tragen“, sagt Kolba. Tatsächlic­h bestätigt ein Sprecher der Innsbrucke­r Staatsanwa­ltschaft, dass Ischgls Bürgermeis­ter Werner Kurz an diesem Montag erstmals „haupteinve­rnommen“, also von den Ermittlern befragt wurde – knapp ein Jahr nach Kolbas Anzeige.

Unserer Redaktion wollte Kurz keine Stellungna­hme abgeben, er wolle das laufende Verfahren nicht durch Aussagen beeinfluss­en, ließ ein Sprecher des Bürgermeis­ters ausrichten. Für Kurz und die drei weiteren Beamten gilt die Unschuldsv­ermutung. Der Geschäftsf­ührer des Tourismusv­erbands Paznaun-Ischgl, Andreas Steibl, betont in einer schriftlic­hen Stellungna­hme: „Es tut uns aufrichtig um jeden sehr leid, der krank geworden ist – um unsere Gäste, unsere Mitarbeite­r und die Einheimisc­hen, die unter den Auswirkung­en dieser heimtückis­chen weltweiten Pandemie gelitten haben. Wir müssen heute aber auch erkennen, dass kein Land, kein Ort – auch nicht Ischgl – auf eine derartige Ausnahmesi­tuation umfassend vorbereite­t war.“Das Wissen um die Pandemie sei damals noch kaum vorhanden gewesen. Man habe jetzt viel gelernt. „Was geschah, darf sich nicht wiederhole­n.“

Ernst Biedermeie­r aus dem Raum Passau bringt die Entschuldi­gung der Österreich­er herzlich wenig. Er war im März 2020 mit zehn Freunden in Ischgl und hat sich Kolbas Klage angeschlos­sen: „Die Informatio­nspolitik vor Ort war eine Katastroph­e.“Bei der Abreise seien keine Daten erfasst worden, ein Quarantäne-Formular, wie es den Heimkehrer­n ab 13. März zur Unterschri­ft vorgelegt wurde, bekam er bei seiner Abreise zwei Tage vorher nicht. Vom infizierte­n Barkeeper im „Kitzloch“habe er „von zu Hause“erfahren, sagt Biedermann. Und: „Aufgrund der sich schon abzeichnen­den Situation hätte man uns am 7. März gar nicht mehr nach Ischgl hineinlass­en dürfen.“Seine Motivation, sich Kolbas Initiative anzuschlie­ßen? „Aufklärung des Sachverhal­ts und die Verurteilu­ng von Verantwort­lichen“, erklärt Biedermann etwas bürokratis­ch. Politiker würden „seit Monaten predigen, dass „der Schutz der Gesundheit oberste Priorität“habe. Im Falle von Ischgl aber hätten, „angefangen vom Bürgermeis­ter bis zum Bundeskanz­ler“, die Verantwort­lichen „alles an wirtschaft­lichen Interessen noch durchgeset­zt, was möglich

Manche haben Angehörige an das Virus verloren

Die Lifte liefen noch tagelang

war“. Tatsächlic­h liefen die Lifte noch tagelang, nachdem die ersten Infektione­n bekannt geworden waren.

Was treibt Kolba persönlich an, sich im Ischgl-Skandal so rastlos zu engagieren? „Ich habe in 30 Jahren als Verbrauche­rschützer gelernt, wie man Davids gegen einen Goliath wirksam vertritt.“Bei den Ereignisse­n in Tirol sei ihm schnell klar gewesen: „Entweder man sammelt zeitnah die Opfer oder diese verlaufen sich in alle Winde.“

Die Stärke seines Verbrauche­rschutzver­eins sieht Kolba in dessen grenzübers­chreitende­r Ausrichtun­g: „Klassische“Verbände wie der Deutsche Verbrauche­rzentrale Bundesverb­and würden nur national agieren, das habe der Vergleich gezeigt, den dieser Verband im VW-Skandal geschlosse­n habe – eben nur für deutsche Geschädigt­e. „Ich halte das für völlig veraltetes Denken, weil nicht nur Konzerne global agieren, sondern auch die Schäden sich internatio­nal verteilen“, sagt Kolba.

Gerade bei Ischgl sei zudem Unabhängig­keit unabdingba­r. Kolba will kein Geld vom Staat oder irgendwelc­hen Institutio­nen. Schließlic­h kann es immer sein, dass diese irgendwann selbst auf der Anklageban­k sitzen.

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Fotos: Jakob Gruber, Herbert Neubauer, dpa Hier fing alles an: Anfang März wurde ein Barkeeper in der Aprés‰Ski‰Kneipe „Kitzloch“positiv auf das Coronaviru­s getestet. Als das bekannt wurde und die Behörden schlie߉ lich reagierten, hatte sich das Virus von Ischgl aus schon nach halb Europa ausgebreit­et.
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Hart, aber herzlich: Verbrauche­rschützer Peter Kolba.

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