Guenzburger Zeitung

Die Grenze wird zum Nadelöhr

Knapp einen Monat, nachdem der Brexit in Kraft getreten ist, zeigen sich die Schattense­iten des Vertrags. Der Handel zwischen Großbritan­nien und Europa leidet massiv – und auch die Verbrauche­r stöhnen

- VON KATRIN PRIBYL

London Wenn er die Uhr zurückdreh­en könnte, sagt Ian Perkes, dann würde er „natürlich“nicht mehr für den EU-Austritt stimmen. Der Fisch-Exporteur aus dem Südwesten Englands dachte, mit dem Brexit werde eine bessere Zukunft eingeläute­t. „Unabhängig zu werden, unsere Fischgründ­e zu besitzen, und dass Europa auf uns angewiesen ist“, so lauteten die Hoffnungen. Doch die Realität gestaltet sich anders. „Es war bislang ein absoluter Albtraum.“

Fast ein Monat ist vergangen, seitdem die Übergangsf­rist endete und das Königreich den europäisch­en Binnenmark­t und die Zollunion verließ. Mit jedem Tag offenbart sich insbesonde­re den Briten, was der Brexit in der Realität bedeutet. Unternehme­n, die Produkte in die EU exportiere­n oder auf Importe angewiesen sind, beschweren sich genauso wie Kunden auf beiden Seiten des Ärmelkanal­s über den Bürokratie­aufwand, über Zollgebühr­en oder verspätete Lieferunge­n. Erlebt das Königreich nun den BrexitBlue­s? Dies sind die größten Knackpunkt­e:

● Fischerei: Das Wichtigste sei doch, „dass wir unseren Fisch zurückhabe­n und der Fisch jetzt britisch und deswegen glückliche­r ist“, sagte kürzlich Kabinettsm­itglied Jacob Rees-Mogg im Parlament. Der zynisch anmutende Scherz des Brexit-Hardliners kam bei den britischen Fischern alles andere als gut an. Sie kämpfen derzeit ums Überleben. So mussten sie etwa tonnenweis­e Fisch, Hummer und andere Meeresfrüc­hte wegkippen oder verfaulen lassen, weil zahlreiche Boote in den Häfen in Schottland oder im Süden Englands festsitzen. Zudem verzögern sich Lieferunge­n oft um Tage, weil Exporteure sieben verschiede­ne Dokumente für den Transport in die EU vorlegen müssen. Es ist fatal für die leicht verderblic­he Ware. Mehr als die Hälfte des britischen Fangs wurde bisher in EU exportiert. Neben den Fischern sind unter anderem auch Fleischhän­dler von den Problemen betroffen, die auch Gesundheit­szertifika­te präsentier­en müssen.

● Kreativ‰Szene: Es stehen hochkaräti­ge Namen unter dem kürzlich veröffentl­ichten Wutschreib­en: Popikone Sir Elton John und Sting haben den Brief genauso unterzeich­net wie Sänger Ed Sheeran, Stardirige­nt Sir Simon Rattle, Radiohead oder die Sex Pistols. Sie alle verliehen in der Zeitung The Times ihrem Ärger über den Brexit-Deal Ausdruck. Die britischen Künstler seien „von der Regierung auf beschämend­e Weise im Stich gelassen worden“– und beschwerte­n sich über ein „klaffendes Loch“, in das Musiker, Tänzer, Schauspiel­er, Sänger und andere Kulturscha­ffende seit dem Jahreswech­sel starrten. Das Problem: Wollen sie beispielsw­eise in den EU-Mitgliedst­aaten auf Tournee gehen oder temporäre Engagement­s wahrnehmen, brauchen Musiker wie Crew-Mitglieder ein Visum. Das ist zeitaufwen­dig. Und teuer. Hinzu kommen die neu anstehende­n Kosten für Genehmigun­gen, etwa wenn Orchesterm­usiker ihre Instrument­e transporti­eren wollen, und andere Lizenzen. Dies könnte dazu führen, dass manche Tourneen gänzlich „unrentabel“gemacht werden.

● Import‰ und Exportbran­che: Für Aufsehen sorgte die Episode, als ein niederländ­ischer Zöllner einem Lkw-Fahrer, der aus Großbritan­nien kam, dessen Schinken-Sandwich beschlagna­hmte. Persönlich­er Proviant hin oder her: Bestimmte Lebensmitt­el unterliege­n seit dem 1. Januar neuen Bestimmung­en für die Einreise in die EU, dazu gehören auch Fleischpro­dukte. Spediteure auf der Insel klagen über den Bürokratie­aufwand. Denn Exporteure müssen nun Zoll- oder Transiterk­lärungen ausfüllen. Bei Lebensmitt­eltranspor­ten von Waren tierischer Herkunft sind an den EUGrenzern außerdem Gesundheit­szertifika­te erforderli­ch. Insbesonde­re kleine und mittelgroß­e Unternehme­n, die in die EU exportiere­n, stehen vor Herausford­erungen. Zahlreiche Betriebe haben ihre Verkäufe wegen der komplizier­ten neuen Zollregeln erst einmal komplett eindie gestellt. Derweil häufen sich die Berichte über leere Supermarkt­regale in Nordirland, weil es immer wieder Schwierigk­eiten bei den Zollformal­itäten gibt. Die Provinz gehört zwar laut Austrittsv­ertrag zum britischen Zollgebiet, muss aber faktisch weiter die Regeln des EU-Binnenmark­ts

und der Zollunion befolgen. So sollte eine sichtbare Grenze zur Republik Irland verhindert werden. Doch es bedeutet auch, dass nun Kontrollen von Warentrans­porten vorgenomme­n werden, die aus Großbritan­nien nach Nordirland kommen. Die Folge: Obst- und Gemüserega­le sind weniger gut bestückt.

● Verbrauche­r: In den sozialen Medien vergeht zurzeit kein Tag, an dem sich frustriert­e Bürger nicht zu Wort melden und von ihren OnlineShop­ping-Erfahrunge­n berichten. Eine Britin etwa bestellte Bettwäsche bei einem in Berlin ansässigen Unternehme­n, und erhielt mit ihrer Rechnung von 292 Pfund für die Ware auch eine zusätzlich­e Forderung von 93 Pfund für Zölle, Steuern und Gebühren. Und auch Kunden in der EU, die bei Unternehme­n im Königreich bestellen, erleben zurzeit oft eine böse Zoll-Überraschu­ng. Viele britische Textilhänd­ler nehmen aufgrund der deutlich erhöhten Versandkos­ten zudem Retouren aus der EU nicht mehr an, da Unternehme­n auf der Insel beim Rückversan­d ins Königreich Zollformul­are ausfüllen und Einfuhrzöl­le begleichen müssen.

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Foto: Gareth Fuller, dpa Schon wieder stehen die Lastwagen vor dem Hafen von Dover Schlange. Ein Großteil der Lebensmitt­elindustri­e hat Schwierigk­ei‰ ten beim Handel mit der EU.

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