Warum Europa jetzt warten muss
Die EU übt deutliche Kritik an Herstellern wegen Lieferkürzungen bei Covid-Impfstoffen. Aber welche Fehler wurden von wem in Brüssel gemacht? Was die Kommission nun tun will
Brüssel Das Schreiben aus Großbritannien hatte die Europäische Kommission schon am Freitagabend in helle Aufregung versetzt. Darin kündigte das Arzneimittelunternehmen AstraZeneca an, seine vertraglich zugesicherten Impfstoff-Lieferungen im ersten Quartal reduzieren zu müssen. Statt der versprochenen 80 Millionen Dosen werde es wegen Engpässen in der Produktion nur 31 Millionen geben, davon rund drei Millionen für Deutschland – deutlich weniger als erwartet.
Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides äußerte „tiefe Unzufriedenheit“und drohte am Sonntag rechtliche Konsequenzen an. Am Montag telefonierte Präsidentin Ursula von der Leyen mit AstraZeneca-CEO Pascal Soriot. Eine Einigung gab es nicht. Am Abend forderte Kyriakides vor weiteren Beratungen mit AstraZeneca die vollständige Erfüllung des Vertrags.
Die Situation ist für die EU äußerst heikel, nachdem zuvor der US-Konzern Pfizer, der den Impfstoff von Biontech in Puurs (Belgien) produziert, wegen Umbauten die Lieferungen bis zur zweiten Februarwoche reduzieren musste. Einmal mehr sah sich Brüssel mit schweren Vorwürfen konfrontiert, auf Rückschläge nicht vorbereitet gewesen zu sein.
Die Frage, wer da wann was vergeigt hat, ist nicht einfach zu beantworten. Da ist zunächst Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides aus Zypern, die bei ihrer Bestellung von allen Seiten hochgelobt worden war. Schließlich gilt sie als Expertin im Kampf gegen Krebs, dem ursprünglich geplanten gesundheitspolitischen Schwerpunkt dieser Kommission. Doch das komplizierte Feld der Medikamenten-Bestellung und -Zulassung war Neuland für sie. Und so übernahm die Italienerin Sandra Gallina die Hauptrolle. Sie hatte jahrelange Erfahrung bei internationalen Vertragsverhandlungen im Handelsressort der Kommission. Der Mercosur-Vertrag mit den lateinamerikanischen Staaten gilt als ihr Glanzstück. Sie wurde vor wenigen Monaten zur Chefin der Generaldirektion Gesundheit ernannt und saß nun am Tisch mit den großen Pharmakonzernen. Ihre Anweisungen erhielt sie aber nicht von der Gesundheitskommissarin, sondern direkt aus der Chefetage von der Leyens. Dennoch wäre es falsch, die drei Politikerinnen als Schuldige an dem Desaster zu bezeichnen.
Denn während aller Beratungen waren die Vertreter der Mitgliedstaaten dabei: Ohne sie gab es keine Entscheidung. Und die machten Fehler: So setzte man zunächst auf den Impfstoff des Herstellers CureVac – ein folgenschwerer Irrtum, auch wenn damals noch niemand verlässlich wissen konnte, wer am Ende vorne liegen würde. Dann blockierten die Vertreter der Ost-Staaten, dass die Gemeinschaft mehr als 2,7 Milliarden Euro für den Ankauf nutzen konnte – ein weiteres Versäumnis. Und schließlich schloss man die Verträge über den Kauf einer bestimmten Zahl von Dosen ab, was zu einem weiteren Problem führt: Denn nachdem die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) erlaubt hat, aus jeder Ampulle des
Biontech-Vakzins nicht fünf, sondern sechs Dosen zu entnehmen, führte das keineswegs zu 20 Prozent mehr Impfungen, sondern zu einer Kürzung der Lieferungen um 20 Prozent – inklusive Preiserhöhung.
Inzwischen muss die Gemeinschaft erkennen, dass es nicht darauf ankommt, wie viel Impfstoff man bestellt hat, sondern ob er verfügbar ist. Und das ist wirklich bitter: Denn Pfizer, das als Partner des deutschen Biontech-Unternehmens für Produktion und Vertrieb zuständig ist, kürzt das EU-Kontingent, nicht aber die amerikanische Versorgung. Das hätte man spätestens am 8. Dezember wissen können. Denn an diesem Tag wies der damalige USPräsident Donald Trump per „executive order“den Konzern an, dass die amerikanischen Pfizer-Werke vorrangig die landeseigenen Impfzentren zu beliefern haben. Der gleiche Verdacht steht nun auch bei AstraZeneca im Raum.
Denn das britisch-schwedische Gemeinschaftsunternehmen will ebenfalls die Lieferungen an die EU reduzieren, während die Versorgung der britischen Bürger unvermindert weiter läuft. Impfstoff-Nationalismus pur, den die Gemeinschaft mit ihrem gemeinsamen Vorgehen verhindern wollte. Nun geht die Kommission diesen Verdachtsmomenten auf den Grund. Am Montag kündigte die EU-Verwaltung an, sehr schnell ein Transparenzregister einzuführen. Dort soll gemeldet werden, welcher Hersteller wie viele Dosen von in der EU hergestelltem Impfstoff in einen Drittstaat liefert – dazu gehört auch Großbritannien. Die Folgen wären gravierend, weil diese Maßnahme dazu führen würde, dass Exporte aus der EU hinaus künftig einer Genehmigung bedürfen. Es ist nichts weniger als ein Misstrauensvotum gegenüber den Pharma-Konzernen.