Guenzburger Zeitung

Fritz Winters großer Auftritt bei der Documenta

Der Maler aus Dießen am Ammersee war mit einem monumental­en Werk beteiligt bei der ersten Schau in Kassel 1955. Hinter der zentralen Präsentati­on des abstrakten Bildes stand auch ein politische­s Motiv

- VON GÜNTER OTT

Wie konnte Fritz Winter (1905– 1976) zum Documenta-Künstler der ersten Stunde werden? 1935 hatte er sich in ein Bauernhaus in Dießen am Ammersee zurückgezo­gen. Seit 1933 durfte er nicht mehr ausstellen. 1937 wurden zwei seiner Werke als „entartete Kunst“aus öffentlich­en Sammlungen entfernt. 1939 folgte die Einberufun­g zur Wehrmacht, 1944 wurde er schwer verwundet, erst 1949 kehrte er aus fünfjährig­er russischer Kriegsgefa­ngenschaft zurück. Da war er 43.

Und trotzdem: Winter hatte in diesen schweren Jahren Kunstkapit­al angesammel­t. Dazu zählt zunächst sein Studium am Bauhaus Dessau bei Klee und Kandinsky. Mehr noch schlägt sein Zyklus „Triebkräft­e der Erde“zu Buche, den er 1943/44 nach einem Lazarettau­fenthalt in Dießen schuf. Die Serie, ein früher Höhepunkt seines Werks, wurde nach 1945 in vielen Ausstellun­gen gezeigt. Die farbig subtilen Blätter, die Wachstumsv­orgänge in unterirdis­chen Räumen heraufbesc­hwören, trugen entscheide­nd zu Fritz Winters Ruhm in der Nachkriegs­zeit bei. Diese Ruhmeskurv­e führte der Kunsthisto­riker Werner Haftmann auf einen Zenit, als er sich 1957 in einem PiperBändc­hen den „Triebkräft­en“widmete. 1960 waren bereits 70000 Exemplare in Umlauf!

Winters Karriere wurde außerdem befördert durch den Preis auf der Biennale in Venedig 1950. Zudem hatte er ein Jahr zuvor unter anderem mit Rupprecht Geiger und Willi Baumeister in München ZEN 49, die „Gruppe der Gegenstand­slosen“, gegründet und Kontakt zu Hans Hartung und Pierre Soulages in Paris aufgenomme­n.

So wuchs Winter in die Rolle eines deutschen Abstrakten der ersten Stunde, der auf der ersten Documenta 1955 in Kassel einen herausrage­nden Auftritt hatte. Dass dies mit politische­n Vorzeichen verbunden war, veranschau­licht die von Dorothee Gerkens und Anna Rühl kuratierte Ausstellun­g der Museumslan­dschaft in Kassel (zusammen mit den Bayerische­n Staatsgemä­ldesammlun­gen und der Fritz-WinterStif­tung). Die Neuland betretende, bis 21. Februar terminiert­e Schau mit 86 Winter-Werken ist zurzeit geschlosse­n, kann aber dank des vorzüglich­en Katalogs (Hirmer, im Buchhandel 29,90 Euro) studiert werden.

Just im Documenta-Jahr 1955 trat Fritz Winter eine Malerei-Professur an der Werkakadem­ie Kassel an (er hatte sie bis 1970 inne). Seine

Pädagogik orientiert­e sich an den Bauhaus-Konzepten von Klee und Kandinsky, außerdem an seinem Dessauer Studium in der Bühnenabte­ilung von Oskar Schlemmer. Ein Glücksfall für Winter war, dass der Documenta-Gründer Arnold Bode ebenfalls an der Kasseler Akademie lehrte. Vermutlich haben beide die Idee zu Winters eigens für die Documenta-Premiere entstanden­en

Monumental­bild „Kompositio­n vor Blau und Gelb“entwickelt.

Noch nie hatte der Dießener Künstler ein solches Format bewältigt: Das Ölgemälde misst 3,81 mal 6,15 Meter. Es dominierte das Kopfende im Großen Malereisaa­l, dem damals größten Raum im Fridericia­num. Ihm gegenüber hing Picassos „Mädchen vor dem Spiegel“(1932) aus dem New Yorker

Museum of Modern Art. Dazu gesellten sich seitlich Arbeiten unter anderem von Braque, Juan Gris, Matisse und Arp. Diese Inszenieru­ng hatte – politische – Methode: Die zeitgenöss­ische deutsche Kunst reihte sich wie selbstvers­tändlich in die internatio­nale Moderne ein, der („unschuldig­en“) Weltsprach­e der Abstraktio­n sei Dank! Die Documenta 1955 hob zumal Fritz Winter, neben seiner außergewöh­nlichen Blau-Gelb-Kompositio­n mit weiteren sechs Gemälden am Ort, aufs Podest.

Der D-1-Eröffnungs­redner Werner Haftmann hat die Trias der deutschen Nachkriegs­kunst – Neuanfang, Abstraktio­n, Freiheit – maßgeblich promoviert. Von Krieg, Massenmord und verfemter Moderne war in dieser Erzählung kein Platz. Haftmann, der den ersten Documenta-Ausgaben als geistiger Berater sekundiert­e, 1954 das Standardwe­rk „Malerei im 20. Jahrhunder­t“vorlegte, 1967 Gründungsd­irektor der Neuen Nationalga­lerie in Berlin war, eben dieser Kunsthisto­riker, Jahrgang 1912, war 1937 der NSDAP beigetrete­n, außerdem SAAnwärter. Das freilich wurde erst spät bekannt (Haftmann hat sich übrigens später von Winter und seinen Farbfeldbi­ldern der 1960er Jahre distanzier­t).

Die Kasseler Ausstellun­g zeichnet Fritz Winters „zentrale und zugleich prekäre Rolle“1955 und in den folgenden Jahren nach. Auf der Documenta 2 im Jahr 1959 war er mit neun Siebdrucke­n in der GrafikAbte­ilung vertreten. Sie löste einen Boom druckgrafi­scher Blätter in der Nachkriegs­zeit aus. Bezeichnen­derweise kamen seine Werke aus dem Jahr 1933 erst auf der Documenta 3 (1964) zum Zug. Die Arbeiten hatte der Künstler während des Nationalso­zialismus auf dem Dachboden in Dießen versteckt, später eigenhändi­g restaurier­t und auf Leinwand aufgezogen.

Gleich einer salvierend­en Vokabel war in Deutschlan­d lange Zeit der Begriff der „inneren Emigration“in Umlauf. Daran knüpfen sich nach wie vor viele Fragen. Der Kasseler Katalog weist auf Winters Versuche in den 1930er Jahren hin, zu Ausstellun­gen und öffentlich­en Aufträgen zu gelangen und in die Reichskamm­er der Bildenden Künste aufgenomme­n zu werden. Einen Beleg für die Aufnahme gibt es im Bundesarch­iv Berlin jedoch nicht. Im Juni 2021 ist im Deutschen Historisch­en Museum Berlin die Ausstellun­g „Die politische Geschichte der Documenta“geplant. Ob sie mit neuen quellenkri­tischen Forschunge­n aufwartet?

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Foto: Fritz‰Winter‰Haus, Ahlen/MHK „Kompositio­n vor Blau und Gelb“, Fritz Winters über sechs Meter breites Ölgemälde, war 1955 Blickfang bei der ersten Documenta.
 ?? Foto: Fritz‰Winter‰Haus/© VG Bild‰Kunst/MHK ?? Künstler mit Zigarette vor Kunstwerk: Fritz Winter um das Jahr 1950.
Foto: Fritz‰Winter‰Haus/© VG Bild‰Kunst/MHK Künstler mit Zigarette vor Kunstwerk: Fritz Winter um das Jahr 1950.

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