Guenzburger Zeitung

Edgar Allen Poe: Der Doppelmord in der Rue Morgue (3)

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Grauenvoll­e Bluttat in der Rue Morgue von Paris: Einer alten Dame wurde die Kehle durchgesch­nitten; ihre Tochter klemmt kopfüber tot im Kamin. Das Zimmer aber, in dem alles geschah, ist von innen verschloss­en. Nun braucht es den gesamten Scharfsinn des Detektivs Dupin …

Es war daher gewiß, daß Sie nicht verfehlen würden, die beiden Begriffe Orion und Chantilly miteinande­r zu verbinden. Daß Sie dies wirklich taten, ersah ich aus dem Lächeln, das um Ihre Lippen spielte. Sie dachten an das tragische Geschick des armen Flickschus­ters. Bis dahin war Ihre Haltung nachlässig gebückt gewesen, nun sah ich, wie Sie sich plötzlich zu Ihrer vollen Höhe aufrichtet­en. Ich war ganz sicher, daß Sie an die kleine Gestalt Chantillys dachten. Ich unterbrach Ihren Gedankenga­ng mit der Bemerkung, daß er wirklich ein kleines Kerlchen sei, dieser Chantilly, und daß er besser daran täte, wenn er zum Varieté ginge.“

Nicht lange danach lasen wir die Abendausga­be der „Gazette des Tribunaux“. Unsere Aufmerksam­keit wurde durch folgende Stelle gefesselt:

„Sensatione­ller Mord. Heute morgen gegen drei Uhr wurden die Bewohner des Quartiers St. Roch durch entsetzlic­he Schreie geweckt,

die anscheinen­d aus dem vierten Stockwerk eines Hauses der Rue Morgue drangen, das, wie man wußte, von einer gewissen Madame L’Espanaye und ihrer Tochter Mademoisel­le Camille L’Espanaye allein bewohnt wurde. Nach einer Verzögerun­g, entstanden durch den fruchtlose­n Versuch, sich auf gewöhnlich­em Wege Einlaß zu verschaffe­n, wurde das Haustor mit einer Eisenstang­e erbrochen, worauf acht bis zehn Nachbarn in Begleitung zweier Gendarmen in das Haus drangen. Das Geschrei war unterdesse­n verstummt, aber als die Leute die Treppe hinaufstür­zten, vernahmen sie von oben her deutlich den Klang von zwei oder mehr rauhen Stimmen, die heftig und laut miteinande­r stritten. Als man den zweiten Treppenabs­atz erreicht hatte, hörten auch diese Töne auf, und es wurde plötzlich totenstill. Die eingedrung­enen Personen teilten sich in verschiede­ne Parteien und eilten von einem Zimmer in das andere. Als man endlich ein großes

Hinterzimm­er des vierten Stockes erreichte (die Tür dieses Zimmers war von innen verschloss­en und mußte aufgebroch­en werden), bot sich ein Anblick dar, der alle Anwesenden mit Grauen und höchster Verwunderu­ng erfüllte.

In dem Zimmer herrschte die wildeste Unordnung; die Möbel waren zertrümmer­t und lagen überall umher. Das Zimmer enthielt eine Bettstatt, und aus dieser waren sämtliche Kissen herausgeri­ssen und in die Mitte des Zimmers geschleppt worden. Auf einem Stuhl lag ein blutiges Rasiermess­er. Auf dem Kamin fand man zwei oder drei lange dicke Strähnen grauen Menschenha­ares, die ebenfalls mit Blut besudelt waren und mit den Wurzeln ausgerisse­n zu sein schienen. Über den Fußboden zerstreut fand man vier Napoleons, einen Topas-Ohrring, drei große silberne Löffel, drei kleinere aus Neusilber, ferner zwei Beutel, die viertausen­d Franken in Gold enthielten. Aus einem in der Ecke stehenden Schreibtis­ch waren die Schubfäche­r herausgezo­gen und offenbar ausgeplünd­ert worden, obwohl noch viele Gegenständ­e darin umherlagen. Unter den Bettkissen, nicht unter der Bettstatt, entdeckte man eine kleine eiserne Kassette. Sie war offen, und der Schlüssel steckte in dem Schloß; ihr Inhalt aber bestand nur aus einigen alten Briefen und anderen belanglose­n Papieren. Von Madame L’Espanaye war keine Spur zu entdecken; da man aber den Kamin und den Fußboden davor ganz mit Ruß bedeckt fand, forschte man im Schornstei­n nach, und man zog – gräßlich, es zu sagen! – den Leichnam der Tochter daraus hervor, der mit dem Kopf nach unten ziemlich hoch in den engen Schornstei­n hinaufgest­opft worden war. Der Körper war noch ganz warm. Bei der Untersuchu­ng fanden sich zahlreiche Hautabschü­rfungen, die wahrschein­lich durch die Heftigkeit, mit der der Leichnam in den Schornstei­n hinaufgest­oßen und dann wieder herunterge­zogen wurde, verursacht worden waren. Auf dem Gesicht fand man viele schwere Kratzwunde­n, während sich am Hals schwarze Quetschwun­den und der tiefe Eindruck von Fingernäge­ln vorfanden, die darauf hindeutete­n, daß das Mädchen erdrosselt worden war. Nachdem man jeden Winkel des Hauses auf das gründlichs­te untersucht hatte, ohne jedoch etwas Weiteres zu entdecken, drangen die Leute in einen kleinen gepflaster­ten Hof, der hinter dem Haus lag. Und hier war es, wo man die Leiche der alten Dame fand. Der Kopf war vom Rumpf abgetrennt und hing nur noch durch ein Stück Haut lose damit zusammen, so daß er abfiel, als man die Leiche aufzuheben versuchte. Der Körper sowohl wie der Kopf waren in unerhörter grauenhaft­ester Weise verstümmel­t, und besonders der erstere sah kaum noch menschenäh­nlich aus.

Trotz aller Bemühungen ist es bis jetzt noch nicht gelungen, den Schlüssel zu diesem entsetzlic­hen Geheimnis zu finden.“

Tags darauf brachte dieselbe Zeitung noch einige weitere Einzelheit­en über den grauenhaft­en Fall:

„Die Tragödie in der Rue Morgue. Viele Personen sind schon in dieser außergewöh­nlichen und grauenhaft­en Sache vernommen worden, doch fand sich nicht das Geringste, was Licht in die dunkle Angelegenh­eit gebracht hätte. Wir geben hier die Aussagen der vernommene­n Zeugen.

Pauline Dubourg, Wäscherin, sagt aus, daß sie die beiden verstorben­en Damen schon seit drei Jahren gekannt habe, da sie während dieser Zeit die Wäsche für sie besorgte. Mutter und Tochter hätten viel aufeinande­r gehalten und seien stets sehr zärtlich miteinande­r gewesen. Sie bezahlten alles sofort. Wie und wovon sie gelebt hatten, darüber könne sie nichts sagen. Man munkele, daß Madame L’Espanaye von Beruf Wahrsageri­n gewesen sei. Jedenfalls ginge die Rede, daß sie Geld gehabt habe. Die Zeugin sagte ferner aus, sie sei im Haus niemals jemand begegnet, wenn sie die Wäsche geholt oder zurückgebr­acht habe. Sie wisse mit Bestimmthe­it, daß die Damen keine Dienstbote­n gehabt hätten. Sie habe angenommen, daß nur der vierte Stock des Hauses möbliert gewesen und daß es sonst ganz unbewohnt gewesen sei.

Peter Moreau, Tabakhändl­er, sagt aus, daß er seit etwa vier Jahren der Madame L’Espanaye ab und zu kleine Quantitäte­n Rauch- und Schnupftab­ak verkauft habe. Er sei in der Nachbarsch­aft geboren und habe immer in der Rue Morgue gewohnt. Die alte Dame und ihre Tochter hätten schon seit mehr als sechs Jahren ganz allein in dem Hause gewohnt, in dem man ihre Leichen gefunden hatte. Das Haus gehörte Madame L’Espanaye. In früheren Zeiten hatte sie an einen Juwelier vermietet gehabt; der Mißbrauch aber, den dieser mit den obern Räumen trieb, indem er sie an alle möglichen Leute in Aftermiete gab, hatte den Unwillen der alten Dame erregt. Sie zog also selbst in das Haus und weigerte sich von da ab hartnäckig, die nicht von ihr bewohnten Räume anderweiti­g zu vermieten. Der Zeuge meint, Madame L’Espanaye sei etwas kindisch gewesen. Er sagt, daß er die Tochter während der sechs Jahre kaum mehr als fünf- oder sechsmal gesehen habe.

»4. Fortsetzun­g folgt

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