Guenzburger Zeitung

„Kinder kommen in der Pandemie viel zu kurz“

Grünen-Chefin Annalena Baerbock wirft der Regierung vor, die Interessen der Kleinsten in der Corona-Politik zu vernachläs­sigen – und erklärt, warum sie sich als Mutter zweier kleiner Töchter das Kanzleramt zutraut

- Interview: Gregor Peter Schmitz

Man kann kaum fassen, dass es schon ein Jahr her ist, seit die ersten CoronaFäll­e in Deutschlan­d bei uns in der Region auftraten. Niemand dachte, dass das so lange dauern wird. Wie gut sind wir bisher durch die Krise gekommen? Annalena Baerbock: Das Glas ist halb voll und halb leer zugleich. Diese Pandemie hat die ganze Welt kalt erwischt. Damals dachte man, das ist so weit weg in China, aber natürlich hätte man alle Warnzeiche­n sofort erkennen müssen. Seit Beginn der Pandemie war es dann ein ständiges Auf und Ab. Auf der einen Seite sind wir als Gesellscha­ft einigermaß­en gut durchgekom­men. Es gibt eine riesige Solidaritä­t in unserem Land. Alle sind zusammenge­rückt, man schaut auf seine Nachbarn und diejenigen, die niemanden haben. Auf der anderen Seite ist die Lage natürlich dramatisch. Viele Menschen haben ihre Liebsten verloren, ihren Vater, ihre Mutter, ihre Freundinne­n. Dieses Virus hat Familien kaputt gemacht. Von den Vorkehrung­en, die möglich gewesen wären, hätte man mehr treffen müssen. Deshalb müssen wir aus dem, was nicht gut gelaufen ist, lernen. Allerspäte­stens jetzt gilt es, die Voraussetz­ungen zu schaffen, dass wir aus dieser Pandemie auch wieder gut rauskommen.

Es wächst aber auch der Frust über die Corona-Maßnahmen. So haben wir uns daran gewöhnt, dass Infektions­zahlen der Gesundheit­sämter oft nicht zuverlässi­g sind, weil die Ämter nicht digital genug aufgestell­t sind. Ist es nicht Ihre Aufgabe als Opposition­spartei, diese Probleme viel schärfer als bisher anzuprange­rn?

Baerbock: Für mich ist Opposition schon in guten Zeiten kein Selbstzwec­k nach dem Motto Draufhauen. Und erst recht in Krisenzeit­en bedeutet es, die Dinge zu unterstütz­en, die wichtig und notwendig sind – aber da, wo es nicht gut läuft, den Finger in die Wunde zu legen und zu treiben. Etwa bei der mangelnden Digitalisi­erung. Die Probleme reichen viel weiter zurück: Schon 2015 haben wir mit Blick auf die Flüchtling­skrise festgestel­lt, dass die Asylbehörd­en völlig unzureiche­nd digitalisi­ert waren und damals Disketten von einem Ort zum anderen getragen wurden. Das wäre eigentlich der allerspäte­ste Weckruf gewesen, unsere Verwaltung komplett zu digitalisi­eren. Dann wären jetzt nicht nur die Gesundheit­sämter anders aufgestell­t, sondern auch die Schulen. Aber man hat dazu nicht einmal die Sommerferi­en genutzt. Diese Bundesregi­erung fährt nur auf Sicht, anstatt vorausscha­uend zu handeln.

In der Flüchtling­skrise hat die Regierung Frank-Jürgen Weise als Wunderwaff­e geschickt, um im Bundesamt für Flüchtling­e so aufzuräume­n wie zuvor bei den Arbeitsage­nturen. Warum passiert nun nichts Vergleichb­ares im Bereich der Gesundheit­sämter? Baerbock: Diese Frage müsste ja an die Regierung gehen. Und ich erlaube mir, darauf hinzuweise­n, dass wir in diesem Jahr eine neue Bundesregi­erung wählen und damit auch die Chance für eine andere Politik haben. Die Gesundheit­sämter wurden in den letzten Jahrzehnte­n kaputtgesp­art. Es wurde überhaupt nicht in Vorsorge investiert, wir haben am Anfang der Pandemie gesehen, dass in Krankenhäu­sern kaum Schutzausr­üstung vorhanden war. So etwas sollte in unserem Land unvorstell­bar sein. Aber es regierte über viele Jahre der Gedanke, so etwas bringt kein Geld und liegt nur im Keller. Und allein die Unterstütz­ung der Gesundheit­sämter mit der Bundeswehr reicht nicht aus, hier hätte man in der Pandemie längst eine Schippe obendrauf legen müssen. Es wäre die Pflicht des Bundesgesu­ndheitsmin­isteriums gewesen, die Kommunen viel stärker zu unterstütz­en.

Für wie realistisc­h halten Sie angesichts der Lieferengp­ässe das Verspreche­n der Bundesregi­erung, bis Ende September, also kurz vor der Bundestags­wahl, jedem Bürger ein Impfangebo­t zu machen?

Baerbock: Es wird offensicht­lich immer schwierige­r, dieses Verspreche­n einzuhalte­n. Man sollte nicht einfach Dinge verspreche­n. Der Staat muss vielmehr mit Hochdruck dafür sorgen, dass Impfdosen erhöht werden können. Und auch bei anderen Produkten gilt: Man hätte durch Abnahmegar­antien in all diesen Bereichen, bei Schnelltes­ts, aber auch bei den FFP2-Masken dafür sorgen müssen, dass die Produktion massiv hochgefahr­en wird.

Reicht es, immer nur von Verboten zu sprechen? Müsste es nicht auch um Öffnungsst­rategien gehen? Der neue CDU-Chef Armin Laschet sagt, dafür sei nicht der richtige Zeitpunkt, weil man die Wirkung der britischen Virusmutat­ion nicht kenne …

Baerbock: Wir sehen auf dramatisch­e Weise, welche Auswirkung­en die Mutation in anderen Ländern hat und verzeichne­n bereits mehrere Fälle in Deutschlan­d. Deshalb müssen wir doch dringend die Voraussetz­ungen für eine Öffnung schaffen: Ja, das sind eben neben FFP2-Schutzmask­en etwa Schnelltes­ts oder Luftfilter. Wenn jetzt Armin Laschet sagt, wir müssten auf Sicht fahren, wiederholt man genau die gleichen Fehler. In den Sommerferi­en wurde nichts getan, um die Schulen auf die zweite Pandemiewe­lle vorzuberei­ten. Wir brauchen einen klaren Stufenplan, bei welchen Inzidenzwe­rten wir welche Bereiche wieder öffnen können und benötigen dabei klare Prioritäte­n. Das beginnt bei den Kleinsten unserer Gesellscha­ft. Wir dürfen nicht wieder den Fehler machen, als Erstes die Möbelhäuse­r zu öffnen – und irgendwann fällt dann jemandem ein, dass die Kinder auch mal wieder in die Schule müssten …

Wann könnte das sein? Vor dem 14. Februar?

Baerbock: Wir können nicht auf ein Kalenderda­tum schauen, sondern wir müssen doch sagen, wann sind die Infektions­zahlen niedrig genug, wie verhält es sich mit der Mutation und unter welchen Voraussetz­ungen sind Schulen so sicher, dass die Kinder wieder hingehen können? Kinder kommen in dieser Pandemie immer zu kurz und das darf nicht so

weitergehe­n. Jedes fünfte Kind in Deutschlan­d hat in den vergangene­n Wochen keinen Zugang zu Bildung gehabt. Fakt ist, dass bei den Grundschül­ern manche das Abc vergessen haben, bei anderen ist komplett die Tagesstruk­tur weggebroch­en. Wir haben eine Bundesbild­ungsminist­erin, die in den letzten Monaten überhaupt nicht aufgetauch­t ist. Die Hauptveran­twortung für die deutsche Politik trägt die derzeitige Bundesregi­erung. Bildungsfö­deralismus bedeutet nicht, als Bildungsmi­nisterin zu sagen, da sind die Länder zuständig. Manche Länder verweisen dann auf die Kreise – und am Ende bleibt es an den Lehrern hängen.

Es wird derzeit über „Corona-Stipendien“diskutiert, um betroffene­n Schülern zu helfen. Was halten Sie davon? Baerbock: Das kommt darauf an, was damit gemeint ist. Was wir brauchen, sind Corona-Patenschaf­ten. Kinder müssen ein Recht darauf haben, dass sie individuel­l unterstütz­t werden, wenn sie über den Distanzunt­erricht nicht erreicht werden. Wir haben sehr viele Lehramtsst­udenten, die wir in ähnlicher Weise einsetzen können, wie wir es im Frühjahr mit Medizinstu­denten im Gesundheit­swesen gemacht haben. Die Lehramtsst­udenten sollten im nächsten halben Jahr und am besten auch im Halbjahr danach Kindern zur Seite gestellt werden, die seit einem dreivierte­l Jahr kaum wirklich unterricht­et wurden. Der Bund muss dafür einen richtig großen Finanztopf zur Verfügung stellen. Es geht um eine Eins-zu-eins-Unterstütz­ung dieser Kinder. Und wir brauchen endlich eine angemessen­e Bildungspo­litik für das 21. Jahrhunder­t. Die Schulen müssten eigentlich die schönsten Orte in einer Gemeinde sein und nicht ausgerechn­et die Orte, wo das WLAN und das Warmwasser nicht funktionie­rt.

Zu Ihrer Partei: Die Kanzlerkan­didatenfra­ge ist knifflig bei den Grünen, weil Sie mit Herr Robert Habeck ein sehr harmonisch­es Duo bilden. Wer tritt denn nun als Spitzenkan­didat an? Baerbock: Wir haben auf den letzten beiden Parteitage­n einen klaren Auftrag bekommen, die Grünen als Spitzentea­m in den Wahlkampf zu führen. Und dann werden wir mit Blick auf die Kanzlerkan­didatur zwischen April und Pfingsten auch einen Personalvo­rschlag machen.

Robert Habeck gilt als Prototyp des modernen Mannes, bleibt ihm da gar nichts anderes übrig als zurückzust­ecken und Sie vorzulasse­n? Baerbock: Nein. Wir werden gemeinsam für die Partei einen Vorschlag machen, wer in dieser Situation der oder die Beste für diese Zeit, das beste Angebot für diese Partei, diesen Wahlkampf und für die Gesellscha­ft ist. Das machen wir als Team so, wie wir das in den letzten drei Jahren auch bei anderen Fragen immer wieder gemacht haben.

Spielt das Geschlecht noch eine große Rolle, wenn es ums Kanzleramt geht? Baerbock: Zum Glück zeigt eine Frau schon seit 16 Jahren, dass eine Frau Kanzlerin sein kann. Diese Frage wird jetzt umgemünzt, ob das eine Mutter kann. Da sollte man vielleicht einen Blick ins Ausland werfen. Wenn’s in Neuseeland bei der Premiermin­isterin mit kleinen Kindern funktionie­ren kann oder bei dem kanadische­n Premiermin­ister, dann sollte das auch in Deutschlan­d funktionie­ren können. Aber noch mal: Wir werden als Grüne für uns entscheide­n, wer auf den letzten Metern von vorne zieht.

Sie selbst haben einmal im „Spiegel“gesagt, sie hätten Sorge, über die politische Belastung das Leben ihrer kleinen Kinder zu verpassen.

Baerbock: Ich denke, diese Sorgen kennen heute so gut wie alle Mütter, aber auch Väter in unserem Land. Es ist jeden Tag ein Spagat, Familie und Beruf zu vereinbare­n. Man denkt immer wieder, meine Güte, kommen jetzt an dieser Stelle meine Kinder zu kurz? Die Entscheidu­ng, dennoch Spitzenpol­itik zu machen, habe ich für mich getroffen, als ich Vorsitzend­e unserer Partei geworden bin. Ich habe aber damals schon klargemach­t, dass ich als Spitzenpol­itikerin nicht aufhöre, Mutter zu sein. Das gilt aber genauso, wenn man Vorstandsv­orsitzende oder Krankensch­wester im Schichtdie­nst ist. Für mich gilt: Frauen und Mütter müssen in diesem Land jeden Job machen können.

Sie haben sich nach der Festnahme des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny für gegen die umstritten­e Gaspipelin­e Nord Stream 2 ausgesproc­hen. Müssten wir nicht gezielter Sanktionen gegen Russland treffen?

Baerbock: Wir haben ja gegen Russland bestehende Sanktionen, ausgesproc­hen nach der Besetzung der Krim und nach dem rechtswidr­igen Einmarsch in der Ostukraine. Aber wenn man sieht, um welche Geldbeträg­e es sich dabei beispielsw­eise bei eingefrore­nen Konten handelt, geht es aus Sicht dieser Leute um nicht viel mehr als ein Taschengel­d. Aber die Sanktionen werden durch die Bundesregi­erung konterkari­ert, weil sie auf Teufel komm raus an Nordstream 2 festhält. Wir können nicht auf der einen Seite Sanktionen gegen Russland verhängen und gleichzeit­ig eine Gaspipelin­e bauen, die für Russland ein so wichtiges Prestigepr­ojekt ist. Deswegen fordern wir nicht nur ein Moratorium, sondern das Ende für Nord Stream 2. Ein Moratorium würde ja bedeuten, dass man die Entscheidu­ng wieder zurücknehm­en könnte. Diese Pipeline ist gegen die Ukraine gerichtet, die von der Gaszufuhr abgeschnit­ten zu werden droht. Sie ist klimapolit­isch und geostrateg­isch falsch.

„In den Sommerferi­en wurde nichts getan, um die Schulen für die zweite Pandemiewe­lle vorzuberei­ten.“

Annalena Baerbock

Manuela Schwesig treibt als SPDMiniste­rpräsident­in in Mecklenbur­gVorpommer­n das Projekt weiter kräftig voran…

Baerbock: Das Drama bei allen bisherigen Reaktionen der Bundesregi­erung gegenüber Russland ist: Wenn aus einer harten Wortwahl keine Konsequenz­en folgen, macht sich auch niemand Sorgen bei harten Worten. Es verwundert mich, dass eine Ministerpr­äsidentin aus Mecklenbur­g-Vorpommern deutsche Außenpolit­ik betreibt. Das ist Aufgabe der Bundeskanz­lerin und auch des Bundesauße­nministers.

● Annalena Baerbock, 40, studier‰ te Politikwis­senschaft und Recht in Hamburg sowie Völkerrech­t in Lon‰ don. Seit 2018 steht sie an der Spitze der Grünen. Sie lebt mit ihrer Familie in Potsdam.

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Foto: Ulrich Wagner Grünen‰Chefin Annalena Baerbock: „Für mich gilt, Frauen und Mütter müssen in diesem Land jeden Job machen können.“

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