Guenzburger Zeitung

Wo Religion über dem Gesetz steht

Corona legt den Riss in der israelisch­en Gesellscha­ft offen. Ultraortho­doxe wehren sich mit Gewalt gegen die Regeln, dabei breitet sich das Virus gerade in ihrer Gemeinscha­ft aus

- VON PIERRE HEUMANN

Tel Aviv Mit Sitzblocka­den behindern sie den Verkehr. Sicherheit­skräfte beschimpfe­n sie als „Nazis“und rufen ihnen Begriffe aus dunklen Zeiten zu: „Pogrom“oder „Kristallna­cht“. Sie zünden einen Bus an und verprügeln dessen Fahrer, rollen brennende Autoreifen auf die Straße, bewerfen Polizisten mit Steinen. Mit ihren wilden und gewalttäti­gen Protestakt­ionen wehren sich Israels Ultraortho­doxe gegen Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens, mit denen die Regierung die Epidemie eindämmen will. Hochzeiten mit hunderten Gästen sind für sie ein unverzicht­barer Teil des gesellscha­ftlichen Lebens, das Beten in der Gemeinscha­ft ein integraler Aspekt des Gottesdien­stes.

„Die Thora ist unser Sauerstoff“, sagt Rabbi Meir, an dessen Talmudschu­le 120 Jugendlich­e das wichtigste Schriftstü­ck des Judentums studieren. Der 58-Jährige weigert sich, seine Eleven nach Hause zu schicken. Die Polizei? Sie schaut oft weg, um sich mit den Radikalen nicht anzulegen.

Rabbi Meir gehört der sogenannte­n „Jerusalem-Fraktion“an, der Hardliner-Fraktion innerhalb der ultrafromm­en Gemeinscha­ft, die die staatliche Autorität rundum ablehnt. Dass die Frömmsten der Frommen innerhalb der Gesellscha­ft weitgehend ein autonomes Leben führen, toleriert die israelisch­e Regierung zwar seit Jahrzehnte­n. Doch jetzt, in der Corona-Krise, will sie die Gesetze und Vorschrift­en landesweit und ohne Ausnahmen durchsetze­n. Das hat gute Gründe: Die Ultraortho­doxen machen 40 Prozent der mit Corona infizierte­n Israeli aus, obwohl ihr Anteil an der Bevölkerun­g lediglich zwölf Prozent beträgt.

Doch für Rabbiner Meir wäre es ein Frevel, den Unterricht zu unterbrech­en und auf das Thora-Studium zu verzichten. „Von der Bibel kommt nichts Schlechtes“, sagt der Hardcore-Fromme. Die CoronaVors­chriften der Regierung zu befolgen und den Schulunter­richt zu suspendier­en, bezeichnet er als „schädlich“, sogar als „gefährlich“: „Die Heilige Schrift schützt uns“, ist er überzeugt und mit dieser Grundhaltu­ng nicht allein. 61 Prozent der Ultraortho­doxen verlassen sich bei der Risikobewe­rtung auf die Rabbiner. Nur 2,6 Prozent halten für glaubwürdi­g, was von der Regierung und ihren Beratern kommt. Mit rabiaten Aktionen des zivilen Ungehorsam­s sorgen sie regelmäßig für lauten Streit.

„Die Corona-Krise hat den Konflikt mit den Säkularen verschärft“, sagt der ultraortho­doxe Israeli Yehuda Drori, der die Proteste mit Sorge beobachtet, weil er sich als Mediator für einen Abbau der Spannungen zwischen Frommen und Säkularen einsetzt. „Der Dialog“, sagt er illusionsl­os, „ist gescheiter­t“. Denn in der Krise prallen gesundheit­spolitisch motivierte Vorschrift­en mit dem radikal-frommen Lebensstil aufeinande­r. Kompromiss­e finden sich kaum: „Die säkulare Weltanscha­uung halten wir für grundfalsc­h. Wir ticken ideologisc­h völlig anders als die Säkularen.“

Wie anders, das zeigt der 35-jährige Drori. Er lebt mit seiner Frau und fünf Kindern in einer Vierzimmer­wohnung. Bei der Familie steht kein Fernseher, die Kinder müssen ohne Videokonfe­renzen auskommen und am Telefon lernen, wenn sie nicht zur Schule können. „Wir haben es deshalb schwerer als diejenigen, sie sich nicht an die Tradition halten“, begründet er seine Weigerung, die Kinder zu Hause zu lassen.

Seit der israelisch­en Staatsgrün­dung vor 73 Jahren haben die Ultraortho­doxen ihren Freiraum stets verteidigt und ihre Rechte systematis­ch ausgedehnt. Sie haben durchgeset­zt, dass der Staat ihre faktische Autonomie toleriert, als würden sie in einer „extraterri­torialen Zone“leben, meint Haaretz-Journalist Anshel Pfeffer. Ihre Macht sichern sie sich durch politische Beteiligun­g, im Parlament sind sie nicht selten das Zünglein an der Waage. Die Frage ist: Wie lange noch? In Israel wird am 23. März erneut gewählt. 61 Prozent der Wähler würden eine Koalition ohne Beteiligun­g der Ultraortho­doxen vorziehen, ergab am Dienstag eine repräsenta­tive Meinungsum­frage. Lediglich einer von fünf Wählern spricht sich für eine Allianz mit den Frommen aus. Was es Benjamin Netanjahu erschweren könnte, erneut eine Allianz mit den Ultraortho­doxen einzugehen.

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Foto: Sebastian Scheiner, dpa Polizisten nehmen einen Ultraortho­doxen fest.

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