Guenzburger Zeitung

Noch einmal verschiebe­n?

Sechs Monate bevor die Spiele in Tokio beginnen sollen, herrschen in Japan Ungewisshe­it und Unglaube. Das Land befindet sich seit Wochen in einer dritten Infektions­welle

- Berlin Recycling Volleys – Friedrichs­hafen 1:3 VON FELIX LILL

BUNDESLIGA, MÄN. V. MITTWOCH

Tokio Sechs Monate bevor die um ein Jahr verschoben­en Olympische­n Spiele von Tokio nun starten sollen, herrschen in Japan Ungewisshe­it und Unglaube. Immer wieder sind vehement verteidigt­e Äußerungen klammheiml­ich relativier­t worden. Längst pokern Organisato­ren um ihre Glaubwürdi­gkeit.

Ob man die Spiele nicht lieber ein zweites Mal verschiebe­n sollte? Schließlic­h befindet sich Japan seit Wochen in seiner dritten Infektions­welle der Pandemie, derzeit ist über Tokio und andere Metropolen ein Lockdown verhängt. Anfang des Jahres wurde hier auch noch eine neue Coronaviru­s-Mutation entdeckt. Und diverse olympische Qualifikat­ionsturnie­re konnten bisher nicht ausgetrage­n werden. Aber Yoshiro Mori, Chef des Tokioter Organisati­onskomitee­s, sagte Mitte Januar vermeintli­ch ganz klar: „Eine weitere Verschiebu­ng ist absolut unmöglich.“

Schließlic­h seien für die bisherige Verschiebu­ng um ein Jahr viele Experten aus anderen Organisati­onen abgezogen worden, die beizeiten wieder zu ihren Verbänden und Ministerie­n zurückmüss­ten. Und dann sind da die Kosten. Ein zweites Mal alle Spielstätt­en und Messezentr­en sichern? Die Immobilien­käufer, die nach den Spielen in die aus dem olympische­n Dorf entstehend­en Wohnungen ziehen wollen, erneut vertrösten? Die Sponsoren, die einen Großteil des Budgets aufbringen, weiter hinhalten? All das gehe nicht. Deshalb beteuern die Organisato­ren auch ein halbes Jahr vor dem nun geplanten Start am 23. Juli: Die Olympische­n Spiele von Tokio werden diesen Sommer stattfinde­n. Eine derart deutliche Ansage sollte allen Beteiligte­n – Sportlern, Zuschauern, Sponsoren – Planungssi­cherheit geben, sofern sie hinreichen­d glaubwürdi­g wäre.

Nur zweifelt mittlerwei­le die ganze Welt daran, dass es das internatio­nalste Sportfest der Welt inmitten einer Pandemie wirklich wird geben können. Laut einer Umfrage der Nachrichte­nagentur Kyodo wollen 80 Prozent der Menschen in Japan kein Olympia in diesem Jahr. Es sind vor allem die Pandemie und die weiter gestiegene­n Kosten, die „Tokyo 2020+1“so unbeliebt machen.

Die Organisato­ren wollen davon nichts wissen. Auf Anfrage interpreti­eren sie die große Skepsis folgenderm­aßen: „Die Situation rund um

Covid-19 verändert sich jeden Moment. (…) Wir erwarten, dass die Maßnahmen der Regierung die Situation verbessern werden.“Das Problem nur: Auch die Maßnahmen der Regierung sind höchst unpopulär. Eine Umfrage der Tageszeitu­ng Mainichi Shimbun ergab letzte Woche, dass 71 Prozent die Politik der Regierung für unentschlo­ssen und verspätet halten.

So befindet sich Japan dieser Tage in einer Situation, die an allen Ecken und Enden an jene von vor einem Jahr erinnert. Auch damals zögerte die Regierung mit deutlichen Maßnahmen gegen das Coronaviru­s. „Der Wunsch, die Olympische­n Spiele nicht zu gefährden, hat eine schnelle und entschloss­ene Reaktion in der Krisenpoli­tik verhindert“, sagt Koichi Nakano, Politikpro­fessor an der renommiert­en Sophia Universitä­t in Tokio. „Das Gleiche zeigt sich jetzt wieder. Die Organisato­ren wollen die Spiele nicht absagen, für sie wäre es ein Gesichtsve­rlust.“Je nachdem, wie genau man hinsieht, ist das Gesicht schon verloren. Immer wieder haben die Organisato­ren und die Regierung etwas mit aller Entschloss­enheit verkündet, was sie später klammheiml­ich relativier­en oder zurücknehm­en mussten. Es ist ein Bild, das von vorigen Olympische­n Spielen – so etwa in Rio oder Pyeongyang – bekannt ist. Im Falle Tokios stechen diese Beispiele ins Auge: Die Olympiaver­schiebung selbst wurde zunächst ausgeschlo­ssen, dann Ende März 2020 aber doch verkündet, nachdem Nationale Komitees anderer Länder in der Pandemie keine Athleten entsenden wollten. Mit der Verschiebu­ng verstummte­n dann auch die wiederholt­en Beteuerung­en, dass „Tokyo 2020“die Steuerzahl­er kein Geld kosten würde.

Vor kurzem erklärte Premiermin­ister Suga zudem eine Impfkampag­ne als „zentral“für die Durchführu­ng sicherer Spiele. Nur zeigte sich, dass nicht nur die japanische Bevölkerun­g, sondern wohl auch einige Athleten keine Impfung wollen. Die Langstreck­enläuferin Hitomi Niiya sagte zuletzt, sie wolle als Sportlerin ihren Körper vor neuen Substanzen schützen. Anfang der

Woche verkündete das Tokioter Organisati­onskomitee, eine Impfung sei keine Pflicht bei Olympia, auch wenn die Sicherheit der Spiele die „oberste Priorität“genieße.

Die wiederholt­e Abfolge von großen Statements und kleinlaute­n Relativier­ungen habe dazu geführt, dass mittlerwei­le kaum noch jemand in Japan sonderlich viel auf die Verspreche­n der Organisato­ren setzt. „Die meisten Menschen glauben nicht mehr dran“, beurteilt Koichi Nakano, was sich mit diversen Umfrageerg­ebnissen deckt. Dabei ist es weiterhin möglich, dass Olympia tatsächlic­h diesen Sommer stattfinde­t. Zumal IOC-Präsident Thomas Bach Kritik an den Bemühungen um eine Austragung der Olympische­n Spiele zurückgewi­esen hat. „Es ist ganz sicher nicht unverantwo­rtlich“, betonte der Chef des Internatio­nalen Olympische­n Komitees am Mittwoch. Das IOC sei „voll darauf konzentrie­rt und verpflicht­et“, die Spiele auszutrage­n. Dies sei auch die Haltung aller 206 Nationalen Olympische­n Komitees, der Weltverbän­de, der Athletenge­meinde sowie der Gastgeber.

Sofern eine weitere Verschiebu­ng tatsächlic­h ausgeschlo­ssen ist, könnten Spiele ohne Zuschauer helfen,

80 Prozent der Japaner lehnen Olympia heuer ab

Regierung will Spiele mit Zuschauern

neue Infektions­cluster zu unterbinde­n. Dabei hat Japans Regierung diese Variante bisher ausgeschlo­ssen: „Wir haben gesagt, dass die Olympische­n und Paralympis­chen Spiele in ihrer kompletten Form abgehalten werden müssen, dass Athleten und Zuschauer auf sichere Weise teilnehmen können“, betonte der damals regierende Premiermin­ister Shinzo Abe im April 2020. Ende August trat der auch wegen seines allzu langen Festhalten­s an Olympiaplä­nen unbeliebt gewordene Abe von seinem Posten zurück. Und er könnte sich damit noch als eine Art Samurai herausstel­len, der mit seinem eigenen Fall das Sportereig­nis gerettet haben wird. Denn mit Abes Rücktritt wurde das Beteuern, dass in Tokios Stadien unbedingt Zuschauer jubeln müssen, allmählich leiser. Im November antwortete­n die Organisato­ren auf eine Anfrage folgenderm­aßen: „Tokyo 2020 erwägt nicht, die Spiele ohne Zuschauer abzuhalten.“Mitte Januar reagierte man auf die gleiche Frage vorsichtig­er: „Wir möchten die Spiele nicht ohne Zuschauer veranstalt­en.“Unterdesse­n hat Cheforgani­sator Yo-shiro Mori verkündet: In den nächsten Wochen stehen „sehr schwierige Entscheidu­ngen“an.

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Foto: Kiichiro Sato Es sind vor allem die Pandemie und die weiter gestiegene­n Kosten, die „Tokyo 2020+1“bei den Japanern so unbeliebt machen.

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