Guenzburger Zeitung

Der Doktor im roten Rock

Der englische Schriftste­ller Julian Barnes porträtier­t in seinem neuen Bestseller ebenso kunstsinni­g wie kurzweilig einen erstaunlic­hen Mann: Samuel Pozzi, berühmter Arzt in der überhitzte­n Belle Époque

- VON GÜNTER OTT

Drei Franzosen reisen nach London. Das wäre nicht so ungewöhnli­ch, handelte es sich nicht um ein Trio von Prinz, Graf und Bürger. Sie sind auf „intellektu­eller Einkaufsto­ur“, will sagen, der Besuch des HändelFest­ivals im Crystal Palace steht neben dem Erwerb kostbaren Tuchs und der Erkundung des örtlichen Ästhetizis­mus.

Die Reisenden im Sommer 1885 sind der Prinz Edmond de Polignac, der Graf Robert de Montesquio­uFezensac und der Bürger Dr. Samuel Jean Pozzi. In Julian Barnes’ neuem Buch „Der Mann im roten Rock“geleitet das Trio den Leser durch wahrhaft abenteuerl­iche Jahre, in denen die Wohlhabend­en, die Dandys und Dekadenten ihr Ich auf der Bühne des Lebens zelebriere­n, der Snobismus alle Hemmungen ablegt, Verkleidun­gen und Rollenwech­sel (vor allem in der Liebe) die Regel sind, Kunst und Künstlichk­eit als Barrieren gegen das Vulgäre hochgezoge­n werden. Es geht um das durch Konkurrenz angetriebe­ne Karussell der Geltung, um die Rotation von Legenden, Lügen und Schmähunge­n, um verletzte Ehre und das oft folgenschw­ere Ende durch ein Pistolendu­ell.

Aufgeschla­gen wird das Kapitel der erhitzten Belle Époque. In jener schön-schrecklic­hen Zeit kursieren Einladunge­n (in die Salons) und Kontakte, sind Reisen (zwischen Frankreich und England und Amerika) an der Tagesordnu­ng, beäugen sich Berühmthei­ten: Schriftste­ller wie der prozessgep­lagte Oscar Wilde („Das Bildnis des Dorian Gray“), wie Joris-Karl Huysmans („Gegen den Strich“), Proust und Maupassant, Maler wie Monet, Komponiste­n wie Wagner und Gabriel Fauré, Journalist­en wie Jean Lorrain. Oder die freizügig mit Liebhabern umgehende, mit einem Schimpanse­n namens Darwin reisende Schauspiel­erin Sarah Bernhardt. Für diese Diva greifen reihum die Autoren zur Feder, von Oscar Wilde und Alexandre Dumas dem Jüngeren bis zu Edmond Rostand.

Das alles ist von einer Kurzweilig­keit, einem Esprit und zugleich einer abgedrehte­n Abgründigk­eit, die dieses bewunderns­wert recherchie­rte, klug zwischen Kulturhist­orie, Porträt, Kurzessay und anschaulic­hen Abschweifu­ngen wechselnde Buch zum Leseerlebn­is und (dank großzügige­r Bebilderun­g) zum Schaustück machen. Autor ist der Engländer Julian Barnes (Jahrgang 1946), ausgewiese­n durch Ironie und Humor, durch Bücher wie „Flauberts Papagei“, zuletzt durch die anregenden Betrachtun­gen in „Kunst sehen“. Ein Gemälde gab auch den Anstoß zum jüngsten, bereits zum Bestseller avancierte­n Werk: „Dr. Pozzi at Home“(1881) von John Singer Sargent. Der amerikanis­che Maler porträtier­te Pozzi im scharlachr­oten Hausrock, eine herausrage­nde Erscheinun­g mit auffallend ausdruckss­tarken Händen. Das Bild befindet sich heute in der Hammer Collection in Los Angeles.

Wer ist dieser Doktor Pozzi (1846–1918)? Eine heutzutage kaum bekannte Größe unter den Großen seiner Zeit. Die (u.a.) mit ihm verbandelt­e Sarah Bernhardt nannte ihn „Doctor Dieu“. Julian Barnes erweist einem Mann die wohlverdie­nte Ehre, der um 1900 im Zenit steht, reich und als Mediziner hochberühm­t, Inhaber des ersten Lehrstuhls für Gynäkologi­e in Frankreich, Autor eines einschlägi­gen Standardwe­rks, gefragter Chirurg bei der Prominenz, spezialisi­ert auf die in Duellen erlittenen Schussverl­etzungen, auf die Laparotomi­e (die Öffnung des Bauchraums), versiert im Vernähen von Blutgefäße­n, ein Pionier in Fragen antiseptis­cher Verfahren, überdies ein Warner vor dem Furor operativus.

Er war noch viel mehr: Herzensbre­cher, unglücklic­h verheirate­t, Reisender, Politiker, Übersetzer von Darwin und Sammler (für die Auflösung seiner Kollektion waren 1919 sieben Auktionen mit 1221 Losen angesetzt) – in einem Satz des Autors Barnes „ein vernünftig­er Mensch in einer verrückten Zeit“. Zu dieser Verrückthe­it gehört, dass einer seiner Patienten 1918 drei Schüsse auf Pozzi abfeuerte.

Barnes fährt die Fieberkurv­en jener Jahre nach. Souverän räsoniert er zwischendu­rch über die Biografens­prache, die Vergangenh­eit als „Spielball der Gegenwart“, das selbstherr­lich gebrauchte Recht zu einem Urteil, nicht zuletzt über das „Was wir alles nicht wissen“. Insbesonde­re einen Satz Samuel Pozzis reicht der Autor an uns weiter: „Chauvinism­us ist eine Erscheinun­gsform der Ignoranz.“

»Julian Barnes: Der Mann im roten Rock. A. d. Englischen v. Gertraude Krue‰ ger. Kiepenheue­r & Witsch, 299 S., 24 ¤

 ?? Fotos: Hammer Museum of Art; Alessandro della Bella, dpa ?? Der Arzt und sein Porträtist: Der englische Schriftste­ller Julian Barnes (rechts) ließ sich für sein Buch über Samuel Pozzi auch von einem Gemälde inspiriere­n, das John Singer Sargent schuf.
Fotos: Hammer Museum of Art; Alessandro della Bella, dpa Der Arzt und sein Porträtist: Der englische Schriftste­ller Julian Barnes (rechts) ließ sich für sein Buch über Samuel Pozzi auch von einem Gemälde inspiriere­n, das John Singer Sargent schuf.
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