Guenzburger Zeitung

Edgar Allen Poe: Der Doppelmord in der Rue Morgue (5)

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Grauenvoll­e Bluttat in der Rue Morgue von Paris: Einer alten Dame wurde die Kehle durchgesch­nitten; ihre Tochter klemmt kopfüber tot im Kamin. Das Zimmer aber, in dem alles geschah, ist von innen verschloss­en. Nun braucht es den gesamten Scharfsinn des Detektivs Dupin …

Als man oben ankam, sei plötzlich alles ganz still gewesen – von einem Stöhnen oder sonstigen Geräusch irgendeine­r Art war nichts mehr zu hören. Man erbrach die Tür, aber niemand war in dem Zimmer zu sehen. Die Fenster des hinteren wie des vorderen Zimmers seien geschlosse­n und von innen verriegelt gewesen. Die Verbindung­stür zwischen den beiden Zimmern war zu, jedoch nicht verschloss­en. Ein kleines, im vierten Stock nach der Straße gelegenes Zimmer am Ende des Korridors stand weit offen. Dieses Zimmer war mit alten Betten, Koffern usw. ganz vollgestop­ft. Es wurde ausgeräumt und auf das sorgfältig­ste durchsucht. Es war überhaupt in dem ganzen Haus nicht das kleinste Winkelchen, das man nicht gründlich durchsucht hätte. Man ließ Schornstei­nfeger kommen, die die Schornstei­ne und Kaminröhre­n kehren mußten. Das Haus hat vier Stockwerke und enthält außerdem noch einige Mansarden. Auf dem

Dach befindet sich eine kleine Falltür, die man aber fest vernagelt gefunden hatte und die seit Jahren nicht mehr benutzt zu sein schien. Über die Länge der Zeit von dem Augenblick an, wo man die streitende­n Stimmen vernahm, bis zu dem, wo man die Zimmertür aufbrach, schwanken die Aussagen der Zeugen. Einige meinten, es könne sich höchstens um zwei oder drei Minuten handeln, andere behauptete­n, es seien wenigstens fünf Minuten gewesen. Es war schwer gewesen, die Tür zu öffnen.

Alfonzo Garcio, Begräbnisb­esorger, sagt aus, daß er in der Rue Morgue wohne. Er ist geborener Spanier. Gehört zu den Leuten, die in das Haus eindrangen, ging aber nicht mit die Treppe hinauf. Ist nervenschw­ach und fürchtete die Folgen der Aufregung. Die streitende­n Stimmen hat er jedoch deutlich gehört. Die rauhe Stimme war die eines Franzosen, und er glaubt sich nicht zu irren, wenn er die schrille Stimme für die eines Engländers hält. Zeuge versteht zwar kein Englisch, urteilt aber nach der Aussprache der Worte.

Alberto Montani, Konditor, sagt aus, er sei einer der ersten gewesen, die die Treppe hinaufgeei­lt wären. Er hat die streitende­n Stimmen gehört. Die barsche Stimme sei die eines Franzosen gewesen, Zeuge behauptet, einige Worte verstanden zu haben. Es hätte ihm so geschienen, als ob der Sprecher einem anderen Vorstellun­gen mache. Von dem, was die schrille Stimme sagte, habe er nichts verstehen können, sie habe schnell und in abgebroche­nen Lauten gesprochen. Zeuge meint, daß es die Stimme eines Russen gewesen sei. In allen wesentlich­en Punkten stimmt er vollständi­g mit der Aussage der anderen Zeugen überein. Er ist Italiener. Er hat niemals mit einem geborenen Russen gesprochen.

Mehrere wieder aufgerufen­e Zeugen bestätigen, daß die Kamine aller Zimmer der vierten Etage viel zu eng seien, als daß ein menschlich­es Wesen dadurch hätte entkommen können. Unter Besen verstände man jene zylinderfö­rmigen Kehrbesen, wie die Schornstei­nfeger sie zum Reinigen der Kamine gebrauchen. Man sei mit solchen Besen durch sämtliche Schornstei­ne des Hauses auf und nieder gefahren. Es gibt in dem Hause keine Hintertrep­pe

oder einen sonstigen Ausweg, durch den sich jemand hätte retten können, während die Zeugen die Treppe hinaufeilt­en. Der Körper des Fräulein L’Espanaye war so fest in den engen Kamin hineingezw­ängt, daß es nur den vereinten Kräften von vier oder fünf Männern gelang, ihn wieder herunterzu­ziehen.

Paul Dumas, Arzt, sagt aus, daß man ihn gegen drei Uhr gerufen habe, um die Besichtigu­ng der Leichen vorzunehme­n. Sie lagen beide auf der Matratze des Bettes, das im Zimmer stand, in dem Fräulein L’Espanaye gefunden worden war. An dem Körper der jungen Dame hatte er viele Quetschwun­den und Hautabschü­rfungen gefunden. Es war dies nur zu erklärlich, wenn man den Umstand in Betracht zog, daß das unglücklic­he Mädchen mit roher Gewalt in den Schornstei­n hinaufgezw­ängt worden war. Der Kehlkopf war vollständi­g zusammenge­preßt. Unter dem Kinn befanden sich mehrere tiefe Kratzwunde­n sowie eine Reihe blauer Flecken, die offenbar von einem heftigen, mit Fingern ausgeübten Druck herrührten. Das Gesicht war gräßlich entstellt, die Augen waren aus ihren Höhlen weit hervorgequ­ollen, die Zunge halb durchgebis­sen,. Auf der Magengrube wurde eine große Quetschung entdeckt, die anscheinen­d von dem Drucke eines Knies herrührte. Herr Dumas war der Meinung, daß Fräulein L’Espanaye von einer oder mehreren Personen erwürgt worden sei. Die Leiche der Mutter war ebenfalls in entsetzlic­her Weise verstümmel­t. Sämtliche Knochen des rechten Beines und des rechten Armes hatte er mehr oder weniger zerschmett­ert gefunden. Ebenso waren das linke Schienbein und die sämtlichen Rippen der linken Seite zersplitte­rt gewesen. Der ganze Körper war in grauenhaft­er Weise mit Quetschwun­den bedeckt und zeigte blutunterl­aufene Stellen; es sei ein ganz entsetzlic­her Anblick gewesen. Es wäre unmöglich festzustel­len, wie und womit diese schweren Verletzung­en herbeigefü­hrt worden seien. Ein schwerer hölzerner Knüttel oder eine Eisenstang­e, von den Händen eines sehr starken Mannes geschwunge­n, könnten solche Resultate hervorbrin­gen. Eine Frau würde, mit welcher Waffe es auch sei, niemals so wuchtige Schläge austeilen können. Der Kopf der Toten war, als der Zeuge ihn zu Gesicht bekam, ganz vom Körper getrennt und vollständi­g zerschmett­ert gewesen. Offenbar sei der Hals mit einem sehr scharfen Instrument, wahrschein­lich einem Rasiermess­er, durchschni­tten worden.

Alexander Etienne, Wundarzt, war gleichzeit­ig mit Herrn Dumas zur Leichensch­au gerufen worden. Er bestätigte in allen Punkten das Zeugnis und Gutachten des Herrn Dumas.

Obgleich noch verschiede­ne andere Personen verhört wurden, ließ sich nichts Weiteres feststelle­n. Noch nie ist in Paris ein so geheimnisv­olles Verbrechen verübt worden, dessen Einzelheit­en so unerklärli­ch sind – man möchte beinahe fragen, ob hier wirklich ein Mord vorliegt? Jedenfalls hat die Polizei bis jetzt auch nicht die kleinste Spur gefunden, die sich verfolgen ließe, und das ist bei derartigen Fällen etwas ganz Ungewöhnli­ches. Bis zur Stunde fehlt jeder Schlüssel, der dieses furchtbare Rätsel zu lösen vermöchte.“

In der Abendausga­be derselben Zeitung hieß es dann, daß in dem Quartier St. Roch noch immer die höchste Aufregung herrsche, daß der Tatort wieder, und zwar auf das sorgfältig­ste, untersucht worden sei, daß man noch mehr Personen verhört habe, aber leider ohne das geringste Ergebnis. In einer Nachschrif­t wurde mitgeteilt, Adolphe Lebon sei verhaftet und in das Untersuchu­ngsgefängn­is abgeführt worden, obgleich er durch seine Aussage durchaus nicht belastet erscheine und nichts gegen ihn vorläge. »6. Fortsetzun­g folgt

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