Guenzburger Zeitung

Erdogan als Geisel

Nationalis­ten setzen ihn unter Druck

- VON SUSANNE GÜSTEN

Ankara Bald sei es so weit, sagte Recep Tayyip Erdogan vor einigen Tagen wieder. Das neue Reformprog­ramm seiner Regierung werde in Kürze der Öffentlich­keit vorgestell­t, versprach der türkische Staatspräs­ident. Seit November redet der 66-Jährige von Neuerungen, mit denen er den Rechtsstaa­t stärken und die Wirtschaft ankurbeln will. Bessere Beziehunge­n zur EU und zu den USA nach jahrelange­n Streiterei­en sollen auch zum großen Neuanfang gehören. Doch geschehen ist bisher so gut wie nichts.

Opposition­spolitiker und Experten glauben, den Grund für das Zögern zu kennen: Erdogan sei zur „Geisel“seines rechtsnati­onalistisc­hen und reformfein­dlichen Koalitions­partners geworden, sagen sie. Erdogan ist längst nicht so mächtig, wie im Westen angenommen wird. Seine Partei AKP hat im Parlament keine Mehrheit und ist auf Unterstütz­ung der rechtsgeri­chteten Partei MHP unter deren Vorsitzend­en Devlet Bahceli angewiesen. Der Nationalis­tenchef nutze seine Position, um Erdogan ideologisc­h in die rechte Ecke zu drängen.

Bahceli ist außerhalb der Türkei nicht sehr bekannt, obwohl er schon viel länger in der Politik ist als Erdogan. Der 73-Jährige reist nie ins Ausland und legt keinen Wert auf Rampenlich­t. Das erschwere es dem Ausland manchmal, die wahren Machtverhä­ltnisse in der Türkei zu erkennen, sagt der Politikwis­senschaftl­er Halil Karaveli. Die Vorstellun­g von Erdogan als allmächtig­en Sultan sei falsch. „Die Leute im Westen, die Erdogan für das Problem halten, sollten wirklich näher hinsehen“, sagte Karaveli.

Erdogan ist auf Bahceli angewiesen, weil er seine früheren Partner verprellt hat. Mit seiner Hilfe konnte Erdogan die Volksabsti­mmung über die Einführung des Präsidials­ystems

Nationalis­ten werden ihn nicht aus der Zange lassen

von 2017 knapp für sich entscheide­n und sich 2018 zum Präsidente­n wiederwähl­en lassen. Die MHP selbst schafft es bei den Parlaments­wahlen zwar stets nur mit Ach und Krach über die türkische Zehnprozen­thürde. Seit der letzten Wahl muss sie aber nicht mehr zittern – Erdogans Regierung ließ das Wahlrecht ändern, sodass die MHP nun per Listenverb­indung von der AKP in die Volksvertr­etung gehievt werden kann.

Von dem Bündnis profitiere­n also beide Seiten. Und doch liegen die Interessen der Partner Erdogan und Bahceli auseinande­r. Auffällig häufig besuchte Erdogan in den letzten Wochen die Vorstände mehrerer kleinerer Opposition­sparteien auf der konservati­ven Seite des politische­n Spektrums, offenbar um die Bereitscha­ft zur Zusammenar­beit zu sondieren. Da sei etwas in Bewegung, sagt der Journalist Rusen Cakir im Internet-Fernsehkan­al Medyascope. „Meine Quellen in der Opposition halten Erdogans Reformankü­ndigungen für einen Versuch, sich von Bahceli zu befreien – nur schaffe er es nicht allein, weil er zu stark von Bahceli abhängig ist. Diese Opposition­skreise wollen Erdogan aus der Sackgasse heraushelf­en, damit er wieder auf demokratis­chen Boden kommt.“

MHP-Kritiker halten es für möglich, dass die Nationalis­ten zu drastische­n Mitteln greifen werden, um das zu verhindern. „Ich rechne damit, dass in nächster Zeit etwas passiert in der Türkei, vielleicht Attentate oder Ähnliches – irgendetwa­s, das Erdogan im Westen schlecht aussehen lässt“, sagte Karaveli.

Eine Warnung kam auch von Ahmet Davutoglu, der Erdogan lange als Berater, Außenminis­ter und Ministerpr­äsident diente und heute in der Opposition ist: „Sie werden versuchen, Erdogan zu liquidiere­n und das Land selbst zu übernehmen.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany