Die Schneesprenger
Gert Baumgartner und Mirko Hieble sorgen dafür, dass im Allgäu Lawinen gezielt ausgelöst werden. Ihr Gespür, wie gefährlich das werden kann, haben im Alpenraum wohl nur sehr wenige
Oberstdorf/Stielings Wenige Augenblicke, nachdem Gert Baumgartner die etwa sieben Kilogramm schwere Sprengladung aus dem Hubschrauber geworfen hat, sind ein Knall und ein kräftiges „Wumm“zu hören. Es hat geklappt: Durch die aus der Luft herbeigeführte Sprengstoffexplosion hat sich die Spannung in der meterhohen Schneedecke gelöst und ein Schneebrett rast die steile Bergflanke in den Oberstdorfer Bergen hinunter. Pulverschnee-Wolken wirbeln auf. Die Lawine kommt unten zum Stillstand. Dann ist alles ganz still. Längst hat Hubschrauberpilot Udo Ramm seine Maschine wieder abgedreht und fliegt zusammen mit der Sprengmannschaft zum nächsten Hang.
Zur Besatzung gehört neben dem Piloten und dem Sprengmeister auch ein sogenannter Einweiser von der Gemeinde oder der örtlichen Lawinenkommission. Der 64-jährige Baumgartner aus Stielings bei Kempten ist seit 45 Jahren fürs Lawinensprengen im Allgäu zuständig. Es gibt im gesamten Alpenraum wohl nur sehr wenige, die so viel Erfahrung und Gespür für Lawinengefahren haben. Sein Neffe Mirko Hieble unterstützt den Inhaber einer Firma für Brandschutztechnik beim Lawinensprengen. Der 30-jährige Hieble ist ebenfalls Sprengmeister, hat wie Baumgartner viele Lehrgänge und Prüfungen machen müssen.
Denn der Umgang mit dem Sprengstoff ist heikel. Das beginnt schon bei der Lagerung in einem Bunker an einem geheim gehaltenen Ort und beim Transportieren in speziellen Sicherheitsbehältern. Und damit alles mit rechten Dingen zugeht, muss Baumgartner genau Buch führen über den Verbleib des eingekauften Materials. Überprüft wird das vom Gewerbeaufsichtsamt. „Es ist die Begeisterung für Schnee, Berge und Wetter“, antwortet Baumgartner auf die Frage, was die Faszination des Berufs ausmacht. „Abwechselnd und spannend“findet Mirko Hieble den Job – anders als seine frühere Tätigkeit, sagt der gelernte Buchbinder.
Nicht immer sprengen Baumgartner und Hieble die Schneebretter vom Hubschrauber aus. Oft sind sie auch zu Fuß unterwegs, beispielsweise im Fellhorn-Gebiet. „Es kann sein, dass du dich da im Schneesturm nach oben kämpfen musst“, erzählt Baumgartner. Ihre Auftraggeber sind meist die Kommunen oder Bergbahngesellschaften. Müssen Lawinen beispielsweise am Oberallgäuer Riedbergpass kontrolliert ausgelöst werden, erhält anschließend der Landkreis die Rechnung für Hubschrauberflug und Sprengarbeiten. Empfohlen werden solche gezielten Auslösungen in der Regel von den örtlichen Lawinenkommissionen. Das sind Gremien von ehrenamtlichen Lawinen-Fachleuten, die es in vielen Allgäuer Alpenorten gibt und die eng mit dem bayerischen Lawinenwarndienst zusammenarbeiten.
In den vielen Jahren als Lawinensprenger hat der 64-jährige Baumgartner beobachtet, dass die Winter zunehmend schneeärmer werden. Unterm Strich sei dieser Trend klar, auch wenn es immer mal noch schneereiche Winter gibt, so wie 2018/19, als in Balderschwang eine Großlawine in den Wellness-Bereich eines Hotels raste.
Bis vor gut zehn Jahren wurden gefährdete Lawinenhänge im Allgäu von Hubschraubern der Bundeswehr aus gesprengt. Heute fliegt eine Privatmaschine des Luftfahrtunternehmens Helix, beispielsweise in den Oberstdorfer Bergen. Pilot Udo Ramm kennt in den Allgäuer Bergen jede Ecke wie wohl kaum ein anderer.
In diesem Winter waren Baumgartner und Hieble erstmals beim Lawinensprengen, nachdem es ab 15. Januar kräftig zu schneien begann. Im Raum Oberstdorf/Bad Hindelang haben Baumgartner in den folgenden Tagen 870 Kilogramm Sprengstoff verbraucht.
Gut möglich ist es, dass die beiden auch im Februar noch Lawinen vom Hubschrauber aus sprengen werden – zumindest, falls es dann noch einmal verstärkt schneit. Wie ergiebig Niederschläge bei bestimmten Wetterlagen in den Bergen aber sind, das können auch die per Computer berechneten meteorologischen Modelle nur mit einer mehr oder weniger großen Unsicherheit prognostizieren. Und Überraschungen in die eine oder andere Richtung sind immer möglich. Wenn es dann aber einmal mehr schneit als erwartet, haben die beiden Sprengmeister aus dem Allgäu auch nichts dagegen. Denn neben der Begeisterung für die Sprengtechnik müssen sie für ihren Beruf noch etwas anderes mitbringen: die Leidenschaft für Schnee.