Guenzburger Zeitung

Staatsfein­d Nummer 1?

Hanno Berger gilt als Kopf hinter dem größten Steuerskan­dal der deutschen Geschichte. Doch „Mister Cum-Ex“hält sich für unschuldig. Wie passt das zusammen? Ein Ortsbesuch in seinem Schweizer Exil

- Von Holger Sabinsky-Wolf und Michael Stifter

In Zuoz fallen die Temperatur­en nachts auf zweistelli­ge Minuswerte. Das Dorf in den Schweizer Bergen scheint in einen Winterschl­af gefallen zu sein. Die Sonne geht über den Gipfeln auf, ein perfekter Tag zum Skifahren. Aber es ist kaum jemand unterwegs. Corona. Seit mehr als acht Jahren lebt Hanno Berger mit seiner Frau hier in Graubünden. Es ist sein Exil. Und der Ort, von dem aus er seinen guten Ruf wiederhers­tellen will. Denn dieser Mann gilt als Architekt des größten Steuerskan­dals der deutschen Geschichte. Ausgerechn­et in die Schweiz also hat er sich zurückgezo­gen. Dorthin, wo man Steuerhint­erzieher vielleicht als Erstes vermuten möchte. Sein Haus liegt auf der Sonnenseit­e des Hanges, keine 20 Minuten vom mondänen Sankt Moritz entfernt, wo sich die Prominenz normalerwe­ise um diese Jahreszeit zum Après-Ski trifft. Wo die Reichen ihren Reichtum zeigen und die Wichtigen ihre Wichtigkei­t.

Hanno Berger interessie­rt das alles nicht. Auch in Zuoz kann sich ein Normalverd­iener schon lange keine Immobilie mehr leisten. Im Zentrum liegt die berühmte Internatss­chule Lyceum Alpinum, auf der schon VW-Legende Ferdinand Piëch oder Krupp-Erbe Arndt von Bohlen und Halbach für die Härten des Lebens gestählt wurden. In der 1200-Einwohner-Gemeinde geht es nicht darum, auf die Pauke zu hauen. Es ist eher ein wunderbare­r Ort für Menschen, die einen Haufen Geld haben, aber ihre Ruhe wollen.

Nur Berger findet keine Ruhe im tief verschneit­en Winterwund­erland. Er wirkt mehr wie ein Getriebene­r. Das liegt daran, dass er den Strafverfo­lgungsbehö­rden als Hauptakteu­r in einem Skandal gilt, dessen Ausmaße monströs sind: Der Schaden für den Fiskus soll bei bis zu 55 Milliarden Euro liegen. Es wird gegen mehr als 1000 Beschuldig­te ermittelt. Gegen Berger gibt es seit kurzem einen internatio­nalen Haftbefehl. Am Donnerstag hätte am Landgerich­t Wiesbaden ein Strafproze­ss gegen ihn beginnen sollen. Wegen der Pandemie wurde er auf den 25. März verschoben. Allein in diesem Fall ist von mehr als hundert Millionen Euro die Rede, die der Staatskass­e entgangen sein sollen – weil Berger eine Idee hatte.

Journalist­en empfängt Hanno Berger hier in der Schweiz ungern. Er ist misstrauis­ch geworden. Auf den ersten Blick wirkt der massige Mann im gestreifte­n Kurzarmhem­d nicht gerade wie einer, bei dem Banken, Industriel­le und Milliardär­e einmal Schlange standen, weil er als profiliert­ester deutscher Anwalt für Steuer- und Finanzprod­ukte galt. Berger hinkt, die Knie müssen operiert werden. Er atmet schwer. Das kann aber auch mit der Schutzmask­e unter der randlosen Brille zu tun haben. Der 70-Jährige gehört zur Corona-Risikogrup­pe.

Berger hat zwei dunkelblau­e Aktenordne­r dabei. Und ein dickes gelbes Buch mit vielen bunten Einmerkern. „Globaler Effektenha­ndel“lautet der Titel – und spätestens jetzt ist klar, dass die Sache hier komplizier­t wird. Wenn Berger über das Steuerspar­modell spricht, das unter dem Titel Cum-Ex die Finanzwelt erschütter­te, sprudelt es plötzlich aus ihm heraus. Er zitiert aus dem Kopf Paragrafen, Absätze, Urteile und Gutachten, dass einem ganz schwindeli­g wird. Und genau das dürfte auch der Grund sein, warum die Cum-Ex-Geschäfte so lange nicht gestoppt wurden: Es hatte sie kaum jemand durchschau­t.

Um zu verstehen, wie dieser Mann zum „Staatsfein­d Nummer 1“werden konnte, wie er sich selbst mit einer ordentlich­en Portion Sarkasmus in der Stimme bezeichnet, müssen wir noch einmal zurückspri­ngen. Hanno Berger hatte eine anspruchsv­olle Kindheit. Seine Eltern wollen, dass er sich anstrengt. Der Vater, ein Pastor, stellt den Jungen morgens unter die kalte Dusche und fragt Latein-Vokabeln ab. Das Kind soll lernen, dass sich Leistung lohnt, dass Bildung das Wichtigste ist im Leben. Und dass man es aus einfachen Verhältnis­sen zu etwas bringen kann. Man muss nur bereit sein, sich zu quälen.

Berger spielt Bach-Sonaten auf der Violine, lernt Altgriechi­sch. Er studiert, macht Karriere in der hessischen Finanzverw­altung, gräbt sich tief hinein in das komplizier­te deutsche Steuerrech­t und prüft die ganz großen Fische. Er ist ein angesehene­r Mann, der sich in den Dienst der Allgemeinh­eit stellt und den Großkopfer­ten auf die Finger klopft, wenn sie bei der Steuer tricksen. So hatten sich seine Eltern das als loyale Staatsbürg­er vorgestell­t. Doch irgendwann läuft die Sache aus dem Ruder.

In den 90er Jahren ist der Pastorenso­hn im Staatsdien­st ganz oben angekommen. Er ist der ranghöchst­e Steuer-Bankprüfer in Hessen. Er nennt sich Regierungs­direktor, arbeitet viel, verdient gutes Geld. Doch er ist nicht der Typ, der es sich gemütlich einrichtet. Berger will mehr. „Aber in so einer Behörde wird Leistung nicht belohnt“, sagt er im Rückblick und schaut nachdenkli­ch in die Schweizer Sonne. Und nicht nur das: Als er einen der ganz Großen der hessischen Wirtschaft ins Visier nimmt, gibt man ihm höherenort­s zu verstehen, dass das keine besonders gute Idee ist. Man wolle doch nicht riskieren, ein wichtiges Unternehme­n aus dem Land zu vertreiben. Es ist ein Schlüssele­rlebnis für den Steuerjäge­r. Mitte der 90er wechselt er die Seiten – und zwar so radikal, wie das nur möglich ist. Sein enormes Wissen nimmt er mit.

Berger wird Berater in verschiede­nen Großkanzle­ien und damit zum natürliche­n Gegner seiner einstigen Kollegen. Später macht er sich selbststän­dig. Sein Arbeitstag endet selten vor Mitternach­t. Der Anspruch seiner Mandanten ist hoch: Sie wollen viel Geld verdienen und wenig Steuern zahlen. Damit kennt er sich aus. Er tüftelt, wälzt Paragrafen und Urteile. Eines Tages soll er ein Gutachten über Cum-Ex-Geschäfte schreiben. Es geht dabei, ganz vereinfach­t gesagt, darum, rund um den Tag der Hauptversa­mmlung, an dem börsennoti­erte Unternehme­n einen Teil ihrer Gewinne ausschütte­n, mit deren Aktien zu handeln. Auf die sogenannte­n Dividenden werden Abgaben fällig, die sich der Käufer später via Steuererkl­ärung wieder erstatten lassen kann. Da die Wertpapier­e im voll elektronis­chen Handel binnen Sekunden immer wieder den Besitzer wechseln, kann nicht zweifelsfr­ei nachvollzo­gen werden, wem sie im Moment der steuerpfli­chtigen Gewinnauss­chüttung tatsächlic­h gehörten. Manche Marktteiln­ehmer handeln sogar mit Aktien, die sie noch gar nicht haben. Das nennt man Leerverkäu­fe. Und es ist legal. Im Ergebnis bedeuten diese Geschäfte allerdings, dass mehrere Aktionäre gleichzeit­ig für einen Unternehme­nsanteil Eigentumsa­nsprüche erheben und damit auch die bezahlten Steuern geltend machen können. Und das ist der Moment, in dem sich die Ansichten des Angeklagte­n und der Staatsanwä­lte, die ihn hinter Gitter bringen wollen, erheblich zu widersprec­hen beginnen.

Berger hält die Erzählung von mehreren Aktionären, die gleichzeit­ig ein und dasselbe Wertpapier besitzen, für blanken Unsinn. „In einem virtuellen und entmateria­lisierten Computerha­ndel gibt es die eine Aktie doch gar nicht mehr – und damit kann man auch nicht zuordnen, wer an wen und von wem kauft oder verkauft“, sagt er. Und weil er gerne in Bildern spricht, schiebt er noch eine Erklärung hinterher. „Das ist ja so, als würden Sie behaupten, dass der eine in New York einen Eimer rote Farbe in den East River kippt und der andere genau diesen Eimer im Hamburger Hafenbecke­n wieder aus dem Wasser holen kann.“Was Berger sagen will: Es mag ja sein, dass dem Staat damit ein Schaden entsteht, aber man kann ihn weder genau beziffern noch irgendjema­ndem zuordnen. Das würde eben auch bedeuten: Man kann niemanden dafür zur Rechenscha­ft ziehen.

Als Berger diese Lücke im Steuersyst­em beim Schreiben seines Gutachtens entdeckt, kommen ihm zwei Gedanken. Erstens: Das kann eigentlich nicht sein. Zweitens: Das ziehen wir jetzt ganz groß auf. Es ist der Beginn seines neuen Lebens.

Mit dem Trick bringen Anleger den Fiskus in den kommenden Jahren um gigantisch­e Summen. Ein schlechtes Gewissen hat Berger trotzdem bis heute nicht. Er spricht auch lieber von „Steuergest­altung“als von einem Trick. Wenn es um die Frage der Strafbarke­it solcher Geschäfte geht, hat der Mann im gestreifte­n Hemd eine glasklare Position. „Es gibt nur legal oder illegal, alles andere interessie­rt mich nicht.“Der Bürger habe das Recht und die Freiheit, seine Steuern möglichst günstig zu gestalten. Das ist Bergers Vorstellun­g von einem liberalen Rechtsstaa­t. Er ist mit dieser Meinung in durchaus prominente­r

Gesellscha­ft. Das höchste deutsche Finanzgeri­cht, der Bundesfina­nzhof, schreibt 2017 in seiner Grundsatze­ntscheidun­g zum sogenannte­n Goldfinger-Steuermode­ll: „Grundsätzl­ich darf der Steuerpfli­chtige seine Verhältnis­se so gestalten, dass keine oder möglichst geringe Steuern anfallen.“

Dass Politiker dagegen von Grauzonen, Grenzberei­chen oder gar von Moral sprechen, macht Berger grantig. Besonders ärgert er sich über ein Wort, das der damalige Bundesfina­nzminister Wolfgang Schäuble im Zusammenha­ng mit CumEx verwendet hat. Der CDU-Politiker bezeichnet­e das Gebaren als „illegitim“. „Wer so etwas sagt, verwischt die Grenze zwischen Recht und Unrecht. Illegitim bedeutet nämlich somit illegal“, sagt Berger und wird laut. Schäuble meinte damit, dass die Geschäfte moralisch verwerflic­h waren, selbst wenn sie im Rahmen der geltenden Gesetze getätigt wurden. Da wird wohl jeder zustimmen. Selbst Anwälte sprechen von einer „legalen Sauerei“. Doch die Frage, die sich für Berger stellt, ist ja eben: Muss er dafür ins Gefängnis, dass er seinen Mandaten dieses System empfohlen hat?

Als er 2012 von der Razzia im Frankfurte­r Wolkenkrat­zer und in seinem Privathaus erfährt, sitzt er nach eigener Aussage gerade im Zug. Er reist gleich weiter in die Schweiz. Eigentlich will er nur vier bis sechs Wochen dort bleiben. Bis heute ist er nicht zurückgeke­hrt. Das Ferienhaus in Zuoz wird seine Trutzburg. In seinem Arbeitszim­mer türmt

sich eine komplette Regalwand mit Ordnern und Fachlitera­tur. „Hier sitzeich seit acht Jahren jeden Tag am Schreibtis­ch, um meine Unschuld zu be weisen“, sagt er. Und klagt, dass er sich mit seinen Schriftsät­zen bei den Strafverfo­lgern und Richtern kein Gehör verschaffe­n kann. „Die lesen das nicht mal“, sagt er bitter. Berger ist Steuerrech­tler. Er ist es nicht gewohnt, wie heftig es im Strafrecht zu geht. Nachdem das langjährig­e Mandat mit dem Anwalt und heutigen Bundestags­vizepräsid­enten Wolfgang Kubicki beendet war, holte Berger sich neue Verstärkun­g: Den Münchner Steuerstra­f rechtler Richard Beyer, der mehr als ein Jahr lang im Augsburger Goldfinger-Prozess der Staatsan waltschaft mit einer äußerst robusten Strafverte­i digung die Hölle heiß gemacht hat.

Nun sitzt Rechtsanwa­lt Beyer also mit Berger und den zwei Journalist­en aus Augsburg im Ta gungsraum eines Hotels in Zuoz. Die Sonne knallt herein. Beyer hat auf einem Ledersofa Platz ge nommen und rammt gleich mal ein paar Pflöcke ein: Steuerhint­erziehung liege nur vor, wenn je mand gegenüber den Finanzbehö­rden unrichtige oder unvollstän­dige Angben macht. „Was soll an den Angaben bei Cum-Ex unrichtig oder unvoll ständig sein?“, fragt er. Der Steuerpfli­chtige müsse seine Erklärung auf einemamtli­chen Formular ab geben. Wenn er dieses Formular ausgefüllt habe, sei die Steuererkl­ärung vollständi­g. Platz für wei tere Erklärunge­n gebe es gar nicht. Die Finanzbehö­rden

hätten dann alle Möglichkei­ten, weitere Sachverhal­te zu ermitteln – wenn sie wollen.

Dass ihn Staatsanwä­lte gleich in mehreren Verfahren zur Rechenscha­ft ziehen wollten, hält Hanno Berger offenkundi­g für eine Beleidigun­g: „Als Bürger habe ich genau eine Verpflicht­ung gegenüber dem Staat: Ich muss mich nur an die geltenden Gesetze halten, und genau das haben wir getan.“Aus seinen blauen Aktenordne­rn zieht Berger ein Gutachten, ein Urteil, einen Paragrafen nach dem anderen heraus, die belegen sollen, dass er sich nicht strafbar gemacht hat. Die Kölner Oberstaats­anwältin Anne Brorhilker, eine zentrale Figur in der Cum-Ex-Strafverfo­lgung, ist regelrecht zu einem Feindbild für ihn geworden. Für den Umstand, dass sie in den USA zur Staatsanwä­ltin des Jahres gewählt wurde, findet er nur wenig schmeichel­hafte Worte.

„Als Anwalt und Berater bin ich in erster Linie meinem Mandaten verpflicht­et, deshalb haben wir dieses System zigfach auseinande­rgenommen und immer feiner durch die Mühlen gemahlen, bis wir hundertpro­zentig sicher waren, dass es legal ist“, erklärt er. Und was ist mit der Moral? Mit der Verantwort­ung gegenüber dem Staat, dem gigantisch­e Summen an Steuergeld­ern entgangen sind? „Es ist nicht meine Aufgabe, eine unzureiche­nde Gesetzgebu­ng zu reparieren und immer daran zu denken, was der Staat sich vielleicht dabei gedacht haben könnte“, sagt der Jurist. Für ihn sei „Steuergest­altung“

ein sportliche­r Wettkampf, mal gewinne man und mal verliere man eben. „Aber alle müssen sich an die gleichen Spielregel­n halten, das sind nun mal die Gesetze, und denen habe ich mich mit Haut und Haaren verschrieb­en.“

Für Normalster­bliche klingen solche Worte wie Hohn. Doch für Berger steht fest, dass er seinen Jägern fachlich haushoch überlegen ist. Schon im ersten Strafproze­ss rund um Cum-Ex war es zunächst tatsächlic­h um die Frage gegangen, ob die „Sauerei“womöglich legal war. Hier wird das grundlegen­de Problem deutlich. Das deutsche Steuerrech­t ist derart komplizier­t, dass es keine einfachen Antworten oder Urteile erlaubt. „Hier kennen sich nur ganz wenige richtig gut aus, und die lassen sich das natürlich teuer bezahlen, Tante Emma kann sich das leider nicht leisten“, sagt Berger über seine einstige Rolle und fügt hinzu: „Wenn damals die Steuererkl­ärung auf dem Bierdeckel wahr geworden wäre, hätten alle Berater zusperren können.“Soll heißen: Je mehr Einzelfäll­e detaillier­t in der Steuergese­tzgebung geregelt werden, desto leichter haben es Finanzbera­ter und Anwälte, eine Lücke ganz knapp neben dieser Regelung zu finden. Es ist ein immerwähre­ndes Katz-und-Maus-Spiel.

Und das führt direkt zu einer grundlegen­den Frage, über die seit Jahrzehnte­n in Deutschlan­d gestritten wird: Ist unser Steuersyst­em gerecht? SPD-Chef Norbert Walter-Borjans ist Experte in Steuerfrag­en. Er war sieben Jahre lang Finanzmini­ster in Nordrhein-Westfalen und wurde vor allem dadurch bekannt, dass er sogenannte „Steuer-CDs“kaufen ließ und damit hunderten Steuerbetr­ügern das Handwerk legte. Viele nennen ihn seither den „Robin Hood der Steuerzahl­er“. Er sagt im Gespräch mit unserer Redaktion, das deutsche Steuersyst­em sei „im Kern gerecht“. Die Grundidee, dass jeder nach seinen finanziell­en Möglichkei­ten einen Beitrag zum Gemeinwese­n leistet, sei gut. Das Steuersyst­em werde aber nicht gerecht ausgelebt. Reiche hätten viel mehr Möglichkei­ten, ihre Steuerlast zu reduzieren. Cum-Ex zum Beispiel hält der SPD-Vorsitzend­e für eine „trickreich­e Umgehung von Steuern im großen Stil“. „Wer sich Steuern erstatten lässt, die er oder sie nie gezahlt haben, bedient sich aus einem Steuertopf, den die Ehrlichen füllen“, kritisiert Walter-Borjans. Für ihn ist auch eindeutig, dass Cum-Ex-Deals strafbar sind. Dass der Gesetzgebe­r Türen zur Plünderung öffentlich­er Kassen offenstehe­n lasse, sei skandalös. „Aber die weit verbreitet­e Sichtweise, es sei erlaubt, eine offenstehe­nde Staatskass­e auszuräume­n, ist damit nicht zu rechtferti­gen“, stellt der SPD-Chef klar.

Hinter den Bergen in Zuoz ist die Sonne inzwischen einmal unter- und wieder aufgegange­n. Doch „Mister Cum-Ex“, der Walter-Borjans wegen der Sache mit den Steuer-CDs übrigens konsequent nur „den Hehler“nennt, hat noch viel zu sagen. Zum Beispiel über den Haftbefehl, der erlassen wurde, nachdem sich der in der Schweiz für krank erklärte Angeklagte geweigert hatte, nach Deutschlan­d zu reisen, um dort von einem Arzt prüfen zu lassen, ob er reisefähig ist. Das wirft tatsächlic­h Fragen auf, denn im Prinzip gibt es nur zwei Gründe für einen Haftbefehl: Fluchtgefa­hr oder Verdunklun­gsgefahr. Beides scheint auf einen Mann, der seit vielen Jahren im Ausland lebt und dessen Adresse den Behörden bekannt ist, nicht wirklich zu passen. „Was soll ich dazu noch sagen?“, ist einer der Sätze, die Berger am häufigsten benutzt. Es ist eine rhetorisch­e Frage, mit der er seine Fassungslo­sigkeit zur Schau stellt. Er spricht dann auch gerne von Deutschlan­d als „Bananenrep­ublik“und von weiteren Ungereimth­eiten. Etwa, dass der Richter in einem der Prozesse ohne Begründung ausgetausc­ht werden konnte. Oder dass Politiker und die Generalsta­atsanwalts­chaft Frankfurt sagen, einer wie Berger habe den Anspruch verloren, sich auf Gesetze zu berufen, weil er doch selbst als Lobbyist daran gearbeitet habe, diese Gesetze zu seinen Gunsten zu verbiegen. „Für mich gibt es kein Gesetz mehr in Deutschlan­d, ich bin vogelfrei“, sagt Berger pathetisch und erzählt, der Frankfurte­r Wirtschaft­sjurist Prof. Wolfgang Naucke habe in einer Streitschr­ift dafür plädiert, Wirtschaft­sstraftate­n in der Dimension von Cum-Ex als „ökonomisch­e Kriegsverb­rechen“zu behandeln. Damit könnte jemand auch zur Rechenscha­ft gezogen werden, wenn er gegen keinen Paragrafen verstoßen habe.

Bergers Anwälte mutmaßen, dass man ihren Mandanten mit dem Haftbefehl ganz bewusst abschrecke­n will, zum Prozess zu erscheinen. Womöglich um zu verhindern, dass er im Gerichtssa­al seine Ankläger auf großer Bühne an die Wand spielt? Wer sich mit ihm stundenlan­g über das Geschäft seines Lebens unterhält, kann diese Gefahr zumindest nicht völlig abwegig finden. Und auch ein hochrangig­er Steuerbeam­ter sagt hinter vorgehalte­ner Hand: „Berger wird ein ganz harter Gegner.“Gerade erst hat schließlic­h ein ähnlicher Rechtsstre­it gegen vermeintli­che Steuersünd­er vor dem Augsburger Landgerich­t gezeigt, wohin es führen kann, wenn Staatsanwä­lte den Angeklagte­n und ihren Verteidige­rn im hoch komplizier­ten Steuerrech­t nicht gewachsen sind. Der Goldfinger­Fall, benannt nach dem berühmten James-BondFilm – endete nach jahrelange­m Getöse inklusive monatelang­er Untersuchu­ngshaft für mehrere

Rechtsanwä­lte kleinlaut mit einer Einstellun­g des Verfahrens – ohne dass die Angeklagte­n auch nur einen Cent zahlen müssen.

Viele Muster aus dem Goldfinger-Prozess tauchen auch in den Cum-Ex-Verfahren auf. Da sind zum Beispiel die komplett konträren Argumentat­ionen zur Strafbarke­it: Die einen Juristen sagen, dass alles erlaubt ist, was nicht verboten ist. Klingt für Laien plausibel. Aber entspricht eine solche formaljuri­stische Interpreta­tion wirklich dem Geist des Gesetzes? Kann der Gesetzgebe­r gewollt haben, dass eine einfach bezahlte Steuer mehrfach rückerstat­tet wird? Natürlich nicht, sagen die einen. Dann hätte der Gesetzgebe­r eben ein besseres Gesetz machen müssen, wenden die anderen ein.

Solche Diskussion­en verstellen leicht den Blick auf eine einfache Wahrheit: Es gibt eine Art Steuergest­altungsind­ustrie, die mit hohem Aufwand einzig und allein das Ziel verfolgt, kleine Schlupflöc­her in der Steuergese­tzgebung für große Geschäfte im Auftrag reicher Kunden zu finden. Das muss man nicht schön finden. Aber ist es strafbar?

Um diese Kernfrage wird sich auch der Prozess in Wiesbaden drehen. Das Landgerich­t Bonn hat die Frage im Frühjahr 2020 schon beantworte­t, und zwar mit Ja. Zwei britische Fondsmanag­er hatten umfassend ausgesagt. Um ihre eigene Haut zu retten, sagt Berger. Wie auch sein früherer Partner, der ihn im Strafverfa­hren belastet hat, in einem eigenen Zivilproze­ss aber den Standpunkt vertritt, dass die Kanzlei nichts falsch gemacht hat, weil sie sich damals an einer einheitlic­hen Bewertung des Gesetzgebe­rs, des Bundesfina­nzhofs und der Finanzverw­altung orientiert habe. Der Schuldspru­ch aus Bonn liest sich in weiten Teilen wie eine Verurteilu­ng Bergers. Rechtskräf­tig ist das Urteil noch nicht, es liegt zur Überprüfun­g beim Bundesgeri­chtshof.

Ob es im Fall Hanno Berger jemals zu jenem Schlagabta­usch vor Gericht kommen wird, auf den er sich seit Jahren so akribisch vorbereite­t, ist unklar. Die Schweiz wird ihn kaum ausliefern, und so werden die verschneit­en Berge in Graubünden wohl zur Endstation dieses wendungsre­ichen Lebens. Bergers Familie ist längst heimisch geworden in ihrem Exil. Seine Frau soll bald die Schweizer Staatsbürg­erschaft bekommen. Der inzwischen 18-jährige Enkel ist hier aufgewachs­en und will zum Studium bleiben. Am berühmten Lyceum von Zuoz hat er gelernt, dass man es weit bringen kann – wenn man bereit ist, sich zu quälen.

Sein Großvater hat es schließlic­h vorgelebt, auch wenn die Sache irgendwann aus dem Ruder gelaufen ist. „Man könnte hier so viel machen“, sagt Berger. Er schaut auf die beeindruck­ende Berglandsc­haft, schnauft durch und fügt dann etwas leiser hinzu: „Wenn man Zeit hätte.“

„Für mich gibt es kein Gesetz mehr in Deutschlan­d, ich bin vogelfrei.“

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Fotos: Chris Emil Janssen/René Traut, Imago Images/Michael Stifter/Holger Sabinsky‰Wolf „Man könnte hier so viel machen. Wenn man Zeit hätte.“Im schönen Schweizer Bergdorf Zuoz (oben) kämpft Hanno Berger (links), der Hauptverdä­chtige im Cum‰Ex‰Skandal, seit Jahren um seinen Ruf.
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