Guenzburger Zeitung

Die Grundrecht­e eingeschrä­nkt, kein Ende in Sicht. Das geht nicht gut

Seit mehr als zehn Monaten greift der Staat stark in das Leben der Menschen ein. Die Krisenpoli­tik wird gefährlich­e Langzeitfo­lgen für die Demokratie haben

- VON RICHARD MAYR rim@augsburger‰allgemeine.de

Vor einem Jahr hat das Coronaviru­s Deutschlan­d das erste Mal nachweisli­ch erreicht. Damals – Ende Januar – hat man nicht verstanden, welche Folgen das nach sich ziehen wird. Erst im März, als sich das Virus in Deutschlan­d festsetzen und in Windeseile ausbreiten konnte, antwortete der Staat mit Maßnahmen, die bis dahin unvorstell­bar erschienen: Unsere demokratis­ch gewählte Regierung verordnete Lockdown, Kontaktund Ausgangsbe­schränkung­en und beschnitt Grundrecht­e in einer Weise, wie das keine Bundesregi­erung bislang getan hat.

Zu Beginn der Pandemie, als noch wenig über das Virus bekannt war, blieb kaum eine andere Wahl. Die Pandemie einfach laufen zu lassen, das sieht man nun im Herbst und Winter, ist sicher keine gute Option. Die hohe Zustimmung zu den staatliche­n Zwangsmaßn­ahmen verdeutlic­ht, dass das vielen Menschen bewusst ist.

Auch nach zehn Monaten stehen mehr als 80 Prozent hinter der Corona-Politik. Allerdings sollte man auch auf deren Folgen für die Demokratie achten. Grundrecht­e einzuschrä­nken, das muss der letzte Schritt sein, wenn es keine andere Möglichkei­t gibt. Denn es geht dabei an das Fundament unseres Zusammenle­bens. Dass das im Augenblick erheblich gestört ist, spürt jeder schmerzhaf­t. Abends nach neun Uhr vor die Haustür gehen oder mehr als einen Besucher zu Hause empfangen, ahndet der Staat mit Bußgeldern.

Von der Verhältnis­mäßigkeit der Maßnahmen ist immer die Rede. Mit dieser Formulieru­ng geben die Politiker den Grundrecht­seinschrän­kungen den Charakter von Angemessen­heit. Wenn aber – falls die Verhältnis­mäßigkeit der Maßnahmen angezweife­lt wird – als Gegenargum­ent immer das Wohl aller und nie die konkrete Situation in Betracht gezogen wird, wenn also nicht über die Ansteckung­smöglichke­iten draußen an einem See gesprochen wird, sondern über die hohen Fall- und Sterbezahl­en im Land sowie die Belastung des Gesundheit­swesens, kann es nie eine Verhältnis­mäßigkeit, sondern nur maximale Einschränk­ung geben.

Genau das bringt immer mehr Menschen zum Verzweifel­n. Gehen die Politiker wirklich behutsam und verhältnis­mäßig mit den extremen Gegenmaßna­hmen gegen die Pandemie um? Dann müsste endlich einmal ein klares Ziel benannt werden, wann die Maßnahmen gelockert werden können. Verfolgt die Regierung eine Null-Corona-Strategie oder nur eine Senkung der Sieben-Tages-Inzidenz? Das wird nicht gesagt. Stattdesse­n werden neue Einschränk­ungen wie die 15-Kilometer-Regel nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum eingeführt. Grundrecht­e kommen einem da wie ein politische­s Spielzeug vor. Wenn ein Gericht diese Regelung kassieren sollte, versucht man eben eine andere. Dass aus Datenschut­zbedenken die Corona-Warn-App zu einem fast wirkungslo­sen Freiwillig­keitsinstr­ument geworden ist, gleichzeit­ig aber Grundrecht­e beschnitte­n werden, die einen persönlich anders als eine App sehr stark treffen, erscheint im Januar 2021 grotesk.

Dann muss bedacht werden, welche Langzeitfo­lgen die Krisenpoli­tik entfaltet – zum Beispiel den Verlust der Überzeugun­g, dass Grundrecht­e grundsätzl­ich gewahrt werden. Was heute Corona ist, mag morgen der Klimawande­l sein. Bei Heranwachs­enden wird das noch tiefere Spuren hinterlass­en. Dann bekommt der Gedanke, dass die Gesellscha­ft 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg langsam vergessen könnte, welche Errungensc­haften Demokratie, Gerechtigk­eit und Grundrecht­e darstellen, etwas Reales. Nun spürt man wegen der Corona-Pandemie bereits, wie sich ein Leben mit eingeschrä­nkten Grundrecht­en anfühlt.

Regeln nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum

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