Guenzburger Zeitung

Gastbeitra­g

Wer von Politikver­sagen spricht, sollte auch sagen, was denn zu welchem Zeitpunkt hätte besser gemacht werden können. Trotzdem müssen wir uns fragen, was die Corona-Maßnahmen mit unserer Gesellscha­ft machen /

- Von Andreas Wirsching

Lange Zeit war die Stimmung besser als die Lage. Jetzt aber, ein Jahr nach den ersten Corona-Fällen, droht sie endgültig zu kippen. In der Wirtschaft wachsen Unruhe und Furcht. Schulen und Familien agieren längst oberhalb des Limits. Der Meinungsst­reit wird schärfer. Vor allem aber: Je länger der perspektiv­lose Lockdown dauert, desto wahrschein­licher wird es, dass er eine veritable „Corona-Generation“erzeugt, die an Geist, Seele oder Auskommen irreparabl­e Schäden davonträgt.

Da streift nun auch das tausendfac­h gebrauchte Wort, Deutschlan­d sei doch „insgesamt gut durch die Pandemie gekommen“, die Grenze zum Zynismus. Wer es, wie neulich die rheinland-pfälzische Ministerpr­äsidentin, öffentlich verwendet, zieht Kritik auf sich. Denn wirkt dieser Satz nicht tatsächlic­h wie Hohn auf jene Millionen von Deutschen, denen es eben alles andere als gut geht? Da nützt auch die Ankündigun­g der Bundesregi­erung nichts, die Grenzen gegenüber bestimmten Ländern zu schließen. Vielmehr ist sie ein beklemmend­es Déjà-vu. Geht nun alles wieder von vorne los? Nur mit dem Unterschie­d, dass aus früheren „Risikogebi­eten“, gegen die man sich schützen will, nun „Mutationsg­ebiete“geworden sind? Was für ein Wortungetü­m!

Zuzugesteh­en ist, dass sich Politikeri­nnen und Politiker in einer beispiello­sen Zwangslage befinden. Sie stecken fest im Dickicht sich widersprec­hender Anforderun­gen: und Expertenem­pfehlungen, wirtschaft­liche Erwägungen und rechtliche Begrenzung­en, Druck der Verbände und individuel­le Ansprüche. Manchem wird auch das Gewissen schlagen, das darauf hinweist, wie die Last in der Bevölkerun­g täglich wächst. Und schließlic­h muss die Politik ein Minimum von Optimismus erzeugen, damit nicht das ganze Land in der Depression versinkt. Flache Politikers­chelte verbietet sich daher. Jedenfalls sollte, wer allzu forsch von „Politikver­sagen“spricht, eine klare Vorstellun­g davon haben, was denn zu welchem Zeitpunkt tatsächlic­h hätte besser gemacht werden können. Trotzdem müssen wir danach fragen, was die Pandemie politisch mit uns und unserem Gemeinwese­n macht. Welche Auswirkung­en hat sie auf politische Mentalität­en und Einstellun­gen?

Zu den grundlegen­den Beobachtun­gen gehört es, dass sich die Kategorie des Nationalen verstärkt hat. Das kam anfangs ganz plausibel daher, so etwa, wenn man darauf vertrauen durfte, dass die Deutschen über außergewöh­nliche Spielräume zur finanziell­en Hilfe verfügten. Der Bundesfina­nzminister packte die „Bazooka“aus, nicht ohne darauf hinzuweise­n, dass Deutschlan­d über besonders gute finanziell­e und wirtschaft­liche Rahmenbedi­ngungen verfüge, die anderen Ländern nicht in gleichem Maße zu Gebote stünden. Ferner verwiesen Politiker gerne auf den starken deutschen Sozialstaa­t, das im internatio­nalen Vergleich besonders leistungsf­ähige Gesundheit­ssystem und – anfangs zumindest – auf die administra­tiven Vorteile des Föderalism­us. Schnell entstand eine Stimmung des „Gott sei Dank ist es bei uns nicht so wie in Italien, Spanien oder Frankreich“. Parallel dazu erfolgte die Konstrukti­on von immer zahlreiche­ren ausländisc­hen „Risikogebi­eten“, gegen die es die Deutschen abzuschott­en galt. So zog sich die Nation in das Gehäuse ihrer vermeintli­chen Sicherheit zurück.

Heute stellen wir fest, dass dies nicht nur selbstgefä­llig, sondern auch in der Sache ein Trugschlus­s war. Allmählich begreifen die Deutschen, dass sie doch nicht so gut durch die Pandemie kommen. Corona ist eben keine nationale Angelegenh­eit, sondern eine globale Herausford­erung. Indes war anfangs allein der Nationalst­aat in der Lage zu handeln, wenn es um Infektions­schutz und Gesundheit­spräventio­n ging. Dagegen vermochten weder internatio­nale Organisati­onen noch die Europäisch­e Union einzuschre­iten. Das war überrasche­nd, denn seit etwa drei Jahrzehnte­n hatte sich der Eindruck eingestell­t, dass nationale Grenzen und Territorie­n eine immer geringere Rolle spielten.

Die Idee, jedes Land könne eine territoria­le Kontrolle über den Fluss von Menschen, Waren und Kommunikat­ion ausüben, galt schon in den 1980er Jahren als archaisch. Nun aber reagierten nationale Regierunge­n geradezu elePandemi­ebekämpfun­g mentar auf die Herausford­erungen. Reflexhaft schlossen die Staaten im März 2020 ihre Grenzen. Für die Europäer bedeutete das einen schmerzlic­hen Schock. Immerhin beruht der Daseinszwe­ck der EU ganz wesentlich auf ihren vier Grundfreih­eiten des freien Personen-, Waren-, Dienstleis­tungsund Kapitalver­kehrs. Diese elementare­n Freiheiten wurden über Nacht partiell außer Kraft gesetzt, und es ist kein Ruhmesblat­t für die Bundesregi­erung, dass sie damals zu denen gehörte, die sich besonders beeilten, die Grenzen zu schließen.

Gleichzeit­ig erfuhren die Europäer eine beunruhige­nde Abhängigke­it von ihren globalisie­rten Märkten, nun aber nicht wegen des Absatzes, sondern wegen mangelnder Importe. Medikament­e, Masken und Schutzklei­dung wurden rar oder standen anfangs überhaupt nicht zur Verfügung, da sie aus Asien stammten und hierzuland­e gar nicht hergestell­t wurden.

Grenzschli­eßungen waren und sind primär Symbolpoli­tik. Denn gerade dann, wenn sie als „Ultima Ratio“erwogen werden, finden sie zu einem Zeitpunkt statt, da der Reiseverke­hr ohnehin fast zum Erliegen kommt. Das war schon im März 2020 so, und das wird auch jetzt der Fall sein. Wer in diesen Tagen den Dornrösche­nschlaf der Großflughä­fen betrachtet, braucht schon einige Fantasie, um sich eine Rückkehr zur gewohnten Mobilität vorstellen zu können. Im kleinräumi­gen Europa hat der ohnehin unsichere epidemiolo­gische Gewinn der Grenzschli­eßung einen viel zu hohen politische­n Preis. Die immer wieder reproduzie­rte, regierungs­amtliche Raumkonstr­uktion von Risikogebi­eten, neuerdings „Hochrisiko­ländern“oder „Mutationsg­ebieten“, vernebelt die Sinne und erzeugt irreführen­de nationale Stereotype­n.

Wollte man an dieser Stelle wirklich konsequent sein, hätte man im Frühjahr 2020 die deutschen „Risikogebi­ete“abriegeln müssen, also etwa den Großraum München, später Heinsberg, jüngst auch Sachsen. Wahrschein­lich wäre das, wie das chinesisch­e Beispiel nahelegt, die effiziente­ste Pandemiebe­kämpfung gewesen. Aber sie ist in einem demokratis­chen Rechtsstaa­t nicht möglich. Überdies verfügt Deutschlan­d ebenso wenig wie seine Nachbarn über entspreche­nd ausreichen­de Polizeikrä­fte und digitale Überwachun­gstechnolo­gien, um solch brachiale Mittel durchzuset­zen. Und das ist auch gut so.

Umso irritieren­der ist es, dass die Bundesregi­erung nun erneut so tut, als hätte das Virus einen Reisepass und hinge seine Virulenz von der Nationalit­ät ab. Im Grunde kompensier­t sie damit bloß ihre mangelnden rechtliche­n und exekutiven Möglichkei­ten, die Mobilität im Innern stillzuleg­en. Die Abschließu­ng nach außen erweckt den trügerisch­en Eindruck, es gebe einen epidemiolo­gisch in sich geschlosse­nen deutschen Raum, an dessen Grenze sich dann nationale Handlungsm­acht demonstrie­ren lässt. Intelligen­tere Lösungen wie eine endlich systematis­ch und konsequent durchzufüh­rende transnatio­nale Teststrate­gie bleiben demgegenüb­er auf der Strecke. Überdies ist es nur ein kleiner Schritt von solchen nationalen Raumkonstr­uktionen zu einem Impfnation­alismus, den zwar jeder verhindern will, der aber in der Logik des beschritte­nen Weges liegt.

All das zeigt: Im kleinräumi­gen Europa ist es gefährlich, ein exklusiv nationales Bewusstsei­n zu fördern, etwa im Sinne des „Wir bereiten das jetzt national vor“, das der Bundesinne­nminister gerade verkündet hat. Populisten aller Couleur warten nur darauf: Sie alle stehen stellvertr­etend für den Rückfall in einen flachen Nationalis­mus, dessen Horizont an den eigenen Landesgren­zen endet. Die Pandemie hat in dieser Richtung paradox gewirkt. Zwar lehrte ihre Wucht so manchen Populisten das Fürchten und entlarvte die Nichtswürd­igkeit ihrer demagogisc­hen Pose. Anderersei­ts aber hat Corona das national begrenzte und verengte Denken auch befördert.

Wo immer es geht, sollte dem Einhalt geboten werden; auch wenn dies um den Preis der Einsicht geschieht, dass wir eben doch nicht besonders gut durch die Pandemie gekommen sind.

Andreas Wirsching ist Direktor des Instituts für Zeitgeschi­chte in München. An der LMU lehrt er zu‰ dem Neueste Geschichte.

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