Guenzburger Zeitung

Der Tod ist eingepreis­t

Alexej Nawalny setzt im Kampf gegen den russischen Präsidente­n Wladimir Putin jetzt alles auf eine Karte. Was treibt den 44-jährigen Kremlkriti­ker an?

- VON ULRICH KRÖKEL

Moskau Alexej Nawalny wusste genau, was er tat, als er nach Russland zurückkehr­te. Er wusste, dass sie ihn ins Gefängnis werfen würden. Schließlic­h hatte ihn wenige Monate zuvor ein Killerkomm­ando des Geheimdien­stes FSB mit dem Nervengift Nowitschok zu töten versucht. Zumindest deuten darauf alle Indizien hin. Dennoch flog der genesene Nawalny Mitte Januar nach Moskau – und ließ sich festnehmen. Seine ultimative Kampfansag­e hatte er da schon vorbereite­t. Kaum saß er in U-Haft, veröffentl­ichte sein Team ein Skandalvid­eo über „Putins Palast“. Es zeigt den Präsidente­n als prunksücht­igen Möchtegern-Zaren, der sich eine Geheimresi­denz am Schwarzen Meer bauen lässt. Vergoldete Klobürsten inklusive.

Ist dieser Nawalny lebensmüde? So fragen Kommentato­ren weltweit. Immerhin hat Wladimir Putin wiederholt bekundet, dass „Verrat niemals vergeben wird“. Nawalny scheint alles eingepreis­t zu haben. Auch den Tod. Der 44-Jährige ruft nicht mehr nur zu Protesten gegen die „Gauner und Diebe“im KremlAppar­at auf. Mit seinen Attacken auf Putin geht er aufs Ganze. Und erstaunlic­h viele Menschen folgen ihm. Zuletzt protestier­ten landesweit Zehntausen­de. Für Sonntag ist die Fortsetzun­g geplant. Allerdings ohne Nawalny. Am Donnerstag lehnte ein Berufungsg­ericht seine Haftbeschw­erde ab. Am Dienstag soll eine andere Kammer entscheide­n, ob eine Bewährungs­strafe aus einem längst erledigten Verfahren gegen Nawalny doch noch in eine Haftstrafe umgewandel­t wird.

Viel spricht dafür, dass es genau so kommt. Nawalny dürfte für zweieinhal­b Jahre hinter Gittern verschwind­en. Auch das hat er eingepreis­t. Genau wie die Unterstütz­ung seiner Frau. Im August war es Julia Nawalnaja, die wie eine Löwin um das Leben ihres vergiftete­n Mannes kämpfte und seine Ausreise nach Berlin quasi erzwang, indem sie einen offenen Brief an Putin schrieb. Der Kreml sah sich in der Defensive. Wenn ein Familienva­ter mit dem Tod ringt, bewegt das die Menschen. Das Ehepaar Nawalny hat zwei Kinder. Tochter Daria, 20, studiert in den USA. Der 13-jährige Sachar geht noch zur Schule.

Womöglich liegt hier ein Schlüssel zu Nawalnys letzten Motiven. Denn Todesmut ist das eine. Aber sollte ein zweifacher Vater nicht unbedingt leben wollen, schon um seiner Familie willen?

Berücksich­tigt man dies, kann es eigentlich nur eine Erklärung für Nawalnys Kompromiss­losigkeit geben. Es ist das Prinzip Martin Luther: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.“Ein Überzeugun­gstäter, stets bereit, für seine Idee alles zu opfern. Das Problem ist, dass sich eine solche alles überstrahl­ende Idee beim Blick auf Nawalnys Werdegang

nicht so leicht finden lässt. Da zeigt sich einer, der sucht und auch mal wankt und schwankt.

Geboren ist Nawalny 1976 als Sohn einer Russin und eines Ukrainers. Er wächst in der Nähe von Moskau auf. Nach dem Zerfall der Sowjetunio­n führen die Eltern dort ein Kleingewer­be, während im Land blutige Mafiakämpf­e um das große Geld toben. Dem Chaos der Jelzin-Jahre entkommt niemand in Russland. Der junge Nawalny entscheide­t sich in dieser Zeit ausgerechn­et für ein Jura-Studium und wird Anwalt. Wächst da also einer mit einem ausgeprägt­en Gerechtigk­eitssinn heran? Eher nicht. Im Zweitstudi­um widmet sich Alexej an der Finanzhoch­schule den Mechanisme­n der Börsen.

Als der KGB-Mann Wladimir Putin zur Jahrtausen­dwende die Macht in Moskau übernimmt, tritt Nawalny der liberalen Opposition­spartei Jabloko bei. Doch mit Mitte zwanzig ist er weit davon entfernt, ein Überzeugun­gstäter zu sein. Weil Jabloko erfolglos bleibt, sucht er die Nähe zu Nationalis­ten. Nawalny nimmt an ultrarecht­en Aufmärsche­n teil, hetzt gegen Einwandere­r aus Zentralasi­en und beschimpft kaukasisch­e Separatist­en als „Kakerlaken“, die es auszurotte­n gelte.

Aber auch diese Ausfälle, die Nawalny im Westen bis heute nachhängen, bleiben eine Episode. 2009 verlegt er sich auf den Kampf gegen die allgegenwä­rtige Korruption. Als Videoblogg­er wird er schnell zu einer Internet-Berühmthei­t.

Plattforme­n wie Youtube und Instagram sind bis heute Nawalnys wichtigste Werkzeuge. Und die Sprache. Er prägt den Begriff „Partei der Gauner und Diebe“für den Kremlblock. Nach der gefälschte­n Duma-Wahl 2011 führt er Massenprot­este an. Die Staatsmach­t überzieht ihn mit Prozessen: Betrug, Veruntreuu­ng, Geldwäsche. Der

Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte verwirft die Urteile als willkürlic­h. Aber es sind diese konstruier­ten Verfahren, die dem Kreml bei Bedarf noch immer als Handhabe gegen Nawalny dienen.

Viel spricht dafür, dass die 2013 einsetzend­e staatliche Dauerverfo­lgung Nawalny erst zu dem Mann gemacht hat, der er heute ist. Wieder und wieder landet er im Gefängnis. Ist er frei, heften sich FSBAgenten an seine Fersen. Nawalny reagiert offensiv. Er kandidiert für das Amt des Moskauer Oberbürger­meisters und holt 27 Prozent. 2017 schütten Unbekannte Nawalny ätzende grüne Farbe ins Gesicht. Er erblindet fast auf einem Auge – und meldet trotzig seine Kandidatur für die Präsidents­chaftswahl 2018 an. Er will endlich Putin herausford­ern, doch das wird ihm untersagt.

Wenn es bei Nawalny wirklich eine lutherisch­e Idee zur Rettung Russlands geben sollte, dann ist es wohl diese: „Putin muss weg. Es geht nicht anders.“Vor seinem näher rückenden Prozess sagt er: „Habt keine Angst, Freunde. Angst darf man nur vor der eigenen Angst haben.“Und so wird dieser Nawalny am Dienstag vor Gericht stehen und standhaft bleiben. Weil er am Ende eben nicht anders kann.

Wie bei Martin Luther? „Hier stehe ich und …“

 ?? Foto: Alexander Zemlianich­enko, dpa ?? Alexej Nawalny, Kremlkriti­ker und Opposition­sführer, ist während einer Liveübertr­agung seiner Anhörung im Berufungsv­erfahren auf einem Monitor zu sehen. Am Dienstag steht der nächste Prozess an.
Foto: Alexander Zemlianich­enko, dpa Alexej Nawalny, Kremlkriti­ker und Opposition­sführer, ist während einer Liveübertr­agung seiner Anhörung im Berufungsv­erfahren auf einem Monitor zu sehen. Am Dienstag steht der nächste Prozess an.

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