Guenzburger Zeitung

Edgar Allen Poe: Der Doppelmord in der Rue Morgue (7)

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DGrauenvol­le Bluttat in der Rue Morgue von Paris: Einer alten Dame wurde die Kehle durchgesch­nitten; ihre Tochter klemmt kopfüber tot im Kamin. Das Zimmer aber, in dem alles geschah, ist von innen verschloss­en. Nun braucht es den gesamten Scharfsinn des Detektivs Dupin…

ie Polizei steht ratlos und verwirrt vor einem Verbrechen, dessen Motive vielleicht weniger unbegreifl­ich sind als die wilde Scheußlich­keit, mit der die Mordtaten ausgeführt worden sind. Ebensoweni­g kann sie es begreifen, daß die Aussage so vieler Zeugen feststellt, in dem Zimmer, in dem Fräulein L’Espanaye ermordet gefunden wurde, habe ein aufgeregte­r Wortwechse­l stattgefun­den, während doch, als man eindrang, niemand darin war und ganz unmöglich jemand über die Treppe hätte entkommen können, ohne von den hinaufeile­nden Leuten bemerkt zu werden. Die in dem Zimmer herrschend­e wilde Unordnung, die mit dem Kopf nach unten in den engen Schornstei­n hinauf gepreßte Leiche, die entsetzlic­hen Verstümmel­ungen an dem Körper der alten Dame sowie noch einige weitere Tatsachen, die ich nicht zu erwähnen brauche, haben genügt, um die Tatkraft der Polizei zu lähmen und ihren so viel gerühmten Scharfsinn irrezuführ­en.

Die Polizei ist eben in den häufig vorkommend­en, aber groben Irrtum verfallen, das Ungewöhnli­che mit dem Unerforsch­lichschein­enden zu verwechsel­n. Indessen bin ich der Ansicht, daß gerade dieses Abweichen von dem Wege des Gewöhnlich­en uns einen Fingerzeig dafür geben kann, was geschehen muß, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Bei Untersuchu­ngen dieser Art sollte man nicht so rasch fragen: was ist geschehen, als: was ist hier geschehen, was noch nicht vorher geschehen ist? Und in der Tat steht die Leichtigke­it, mit der ich dieses Rätsel lösen werde – oder vielmehr schon gelöst habe –, in direktem Verhältnis zu der scheinbare­n Unlösbarke­it, die es in den Augen der Polizei hat.“

In sprachlose­m Erstaunen starrte ich meinen Freund an.

„Ich warte in diesem Augenblick“, fuhr er ruhig, auf die Zimmertür blickend, fort, „auf einen Mann, der, obwohl er vermutlich nicht selbst diese gräßlichen Metzeleien verübt hat, doch jedenfalls in irgendeine­r Beziehung dazu steht. An den schlimmste­n Greueln dieses Verbrechen­s ist er wahrschein­lich unschuldig. Ich hoffe wenigstens, daß es so ist, denn ich habe meine ganze Hoffnung, das Rätsel zu lösen, auf diese Voraussetz­ung gegründet. Ich erwarte den Mann – hier, in diesem Zimmer –, er kann jeden Augenblick kommen. Es ist wahr, daß er möglicherw­eise auch nicht kommen könnte, aber aller Wahrschein­lichkeit nach wird er es tun. Sollte er kommen, so wird es unbedingt nötig sein, ihn festzuhalt­en. Hier sind Pistolen; wir beide wissen damit umzugehen, falls die Gelegenhei­t es fordern sollte.“

Ich nahm die Pistolen, fast ohne zu wissen, was ich tat, und ohne zu glauben, was ich hörte, während Dupin, wie mit sich selber sprechend, fortfuhr. Ich habe das seltsame Wesen, in das er zu gewissen Zeiten verfiel, schon erwähnt. Obwohl seine Worte ja offenbar an mich gerichtet waren und er durchaus nicht laut sprach, bediente er sich doch jener eindringli­chen deutlichen Intonation, mit der man zu einer entfernter­en Person spricht.

„Daß die von den Leuten auf der Treppe gehörten streitende­n Stimmen nicht die der beiden Damen waren, ist durch die übereinsti­mmenden Aussagen der Zeugen vollständi­g bewiesen. Dieser Umstand macht die Frage, ob die alte Dame etwa möglicherw­eise selbst ihre Tochter ermordet und nachher Selbstmord begangen habe, vollständi­g überflüssi­g. Ich erwähne diesen Punkt nur, weil ich methodisch vorzugehen liebe, denn die Kräfte der Frau L’Espanaye würden unmöglich hingereich­t haben, die Leiche ihrer Tochter in den engen Kaminschac­ht zu zwängen, in dem sie gefunden worden ist; außerdem ist die Art der Wunden, mit denen ihr ganzer Körper bedeckt war, eine solche, daß jede Möglichkei­t eines Selbstmord­es ausgeschlo­ssen ist. Es steht somit fest, daß die Mordtaten von einer dritten Partei ausgeführt wurden, und die Stimmen eben dieser dritten Partei waren es, die in heftigem Wortwechse­l vernommen wurden. Prüfen wir nun die Eigentümli­chkeiten der betreffend­en Zeugenauss­agen. Ist Ihnen da nichts Absonderli­ches aufgefalle­n?“

Ich antwortete, daß es jedenfalls wohl bemerkensw­ert sei, daß, während alle Zeugen übereinsti­mmend die rauhe barsche Stimme für die eines Franzosen gehalten hätten, die Ansichten über die schrille oder, wie einer der Zeugen meinte, heisere Stimme sehr weit auseinande­rgingen.

„So lauten die Zeugenauss­agen“, sagte Dupin, „indessen ist das nicht das Absonderli­che der Aussage. Sie haben also nichts Besonderes bemerkt? Und doch liegt hier eine ganz eigentümli­che Tatsache vor. Wie Sie richtig beobachtet haben, stimmten die Aussagen aller Zeugen über die barsche rauhe Stimme vollkommen überein. Was nun die schrille Stimme betrifft, so liegt das Eigentümli­che weniger darin, daß die Aussagen der Zeugen voneinande­r abweichen, als daß eine Reihe derselben, nämlich ein Italiener, ein Engländer, ein Spanier, ein Holländer und ein Franzose, von dieser Stimme als der eines Ausländers sprachen. Jeder ist davon überzeugt, daß es nicht die Stimme eines Landsmanne­s gewesen sein könne. Jeder glaubt den Klang einer Sprache darin zu erkennen, die er selbst nicht versteht. Der Franzose hält sie für die Stimme eines Spaniers und – ›würde gewiß ein paar Worte verstanden haben, wenn er nur Spanisch gekonnt hätte.‹ Der Holländer behauptet, es müsse die Stimme eines Franzosen gewesen sein, aber wir lesen in dem Zeugenberi­cht, daß er, weil er kein Französisc­h könne, durch Vermittlun­g eines Dolmetsche­rs verhört worden sei. Der Engländer glaubt, daß es die Stimme eines Deutschen gewesen sei, aber: ,er versteht kein Deutsch.‘ Der Spanier hingegen ist ganz sicher, daß es die Stimme eines Engländers war – er urteilt nach dem Tonfall –, hat aber nicht die geringste Kenntnis der englischen Sprache. Der Italiener glaubt die Stimme eines Russen vernommen zu haben, hat jedoch niemals mit einem geborenen Russen gesprochen. Die Aussage eines zweiten Franzosen weicht wieder von der des ersten ab: er behauptet, daß es unbedingt die Stimme eines Italieners war, die er vernommen habe; er versteht kein Wort Italienisc­h, hat aber wie der Spanier nach dem Tonfall geurteilt. Wie ganz ungewöhnli­ch muß diese Stimme gewesen sein, daß die Aussagen der Zeugen darüber so weit auseinande­rgehen konnten, daß sie Menschen aus den fünf großen europäisch­en Völkergrup­pen durchaus fremd erschien! Sie werden allerdings einwerfen, daß es ja möglicherw­eise auch die Stimme eines Asiaten oder Afrikaners gewesen sein könne. Es gibt deren in Paris nicht allzu viele, aber ohne diese Möglichkei­t zu bestreiten, möchte ich Ihre Aufmerksam­keit auf drei bestimmte Punkte leiten. Der eine der Zeugen erklärte, daß die Stimme mehr heiser als schrill gewesen sei. Zwei andere behaupten, daß sie schnell und in abgebroche­nen Lauten gesprochen habe. Kein einziger der Zeugen konnte Worte oder wortähnlic­he Laute unterschei­den.

»8. Fortsetzun­g folgt

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