Der Stumme hat das Sagen
Porträt Italien steckt wieder einmal in einer politischen Krise. Lösen muss sie Staatspräsident Mattarella – ein Mann mit Rückgrat und mutigen Grundsätzen
Es ist in der italienischen Politik wie bei Raufbolden. Sie stänkern und streiten. Am Ende hilft alles nichts, das Familienoberhaupt muss die Krise beheben. Im römischen Polit-Chaos kommt diese Rolle Staatspräsident Sergio Mattarella zu. Wieder einmal bekam das 79 Jahre alte Staatsoberhaupt Besuch von Ministerpräsident Giuseppe Conte. Der Premier reichte bei Mattarella seinen Rücktritt ein. Nun ist das Staatsoberhaupt gefragt.
Dem Sizilianer kommt in den unstabilen Verhältnissen in Rom eine hervorgehobene Rolle zu, er nominiert Premier und Kabinett, entscheidet nun, ob Conte erneut eine Chance bekommt. Politik ist eine ernste Sache für Mattarella, leichtfertige Entscheidungen sind seine Sache nicht. Er ging nach der Ermordung seines Bruders Piersanti 1980 durch die sizilianische Mafia in die Politik, der Bruder starb nach dem Attentat in Mattarellas Armen. Der zum linken Flügel der Christdemokraten zählende Politiker, dessen Ehefrau 2012 verstarb, hat drei Kinder und kümmerte sich auch um die Kinder seines ermordeten Bruders. Neben Kunst liebt der Staatspräsident Katzen, von denen sich Hunderte in der römischen Innenstadt unweit des Quirinalspalastes tummeln, dem Amtssitz des Staatspräsidenten. Seit 2015 ist er dort im Amt.
Mattarella war bis 1990 nicht nur fünfmal Minister, sondern von 2011 an auch Verfassungsrichter und dabei insbesondere mit Parlaments- und Wahlrecht befasst. Wenige kennen die Untiefen des römischen Parlamentarismus besser als der Staatspräsident. EUTreue und Stabilität, zumal während der Pandemie, gehören zu seinen politischen Credos, deshalb sind voreilig einberufene Neuwahlen Mattarellas letzte Option.
Sein staatsmännisches Meisterstück lieferte Mattarella im Sommer 2019. Damals hatte der laut Umfragen triumphierende Lega-Chef Matteo Salvini „die ganze Macht“gefordert und den Bruch der ersten Regierung unter Conte provoziert. Mattarella ließ zu, dass sich die Fünf-Sterne-Bewegung vom Koalitionspartner Lega lossagte und mit den Sozialdemokraten eine neue, erst jetzt beendete Allianz bildete, ohne Neuwahlen. Den politischen Preis dafür bezahlte die
Grillo-Bewegung mit ihrem Schwenk von rechts nach links. Die am stärksten im Parlament vertretene Partei blieb zwar an der Macht, verliert aber immer mehr an Zustimmung. Der Staatspräsident hatte institutionelles Geschick gezeigt, Kontinuität unter Premier Conte wurde möglich. Mutig war seine Entscheidung 2018, nach der Wahl hatte Mattarella der Populisten-Regierung aus Sternen und Lega den Segen gegeben, allerdings die Nominierung eines Euroskeptikers als Finanzminister per Veto verhindert.
Reserviertheit und staatsmännisches Auftreten des Präsidenten sind Legende in Rom. Sein Beiname „Il muto“, der Stumme, wird inzwischen nicht mehr als Kritik, sondern angesichts der unübersichtlichen und laut hervorgebrachten Einzelund Parteiinteressen als Lob verstanden. Julius Müller-Meiningen