Impfnarben als Blickfang
Alles verändert sich. Wer früher „einen Stich“hatte, war für das gesellschaftliche Leben verloren. Heute muss jeder einen Stich haben. Nämlich einen Nadelstich in den Oberarm. Wer bereits eine Dosis Biontech, Moderna oder AstraZeneca in sich trägt, gilt als ideal gereinigter Mensch und Hoffnungsträger. Seine verbesserte Überlebenschance löst bei impfwilligen Stichkandidaten Bewunderung oder Neid aus.
Darin aber liegt das Problem. In der Corona-Abwehrschlacht entsteht eine ganz neue Zwei-KlassenGesellschaft. Millionen Menschen profitieren vom impfgestützten Aufstieg, Millionen andere fühlen sich als Zukurzgekommene. Die impfbereiten Ungeimpften hoffen auf die baldige Lieferung einer ausreichenden Zahl von Impfdosen, auf wachsende Leistungskraft der Impfzentren und vor allem auf den persönlichen Nadelstich in den Oberarm.
Denn sie wollen wenigstens als Spätgeimpfte im Impfglück beben und dabei so angenehm auffallen wie die Kassiererin Maria Magdalena in Oskar Panizzas Erzählung „Golgatha“. Diese Gestalt verbreitet als mehrfach Geimpfte großen Glanz: „Ihre nackten Arme, auf denen wunderschön geheilte Impfnarben zu sehen waren, zitterten heftig; man wußte nicht vor Erregung, oder wegen der nasskalten Luft.“