Guenzburger Zeitung

Edgar Allen Poe: Der Doppelmord in der Rue Morgue (9)

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Grauenvoll­e Bluttat in der Rue Morgue von Paris: Einer alten Dame wurde die Kehle durchgesch­nitten; ihre Tochter klemmt kopfüber tot im Kamin. Das Zimmer aber, in dem alles geschah, ist von innen verschloss­en. Nun braucht es den gesamten Scharfsinn des Detektivs Dupin…

Wie ich bereits sagte, sah er genauso aus wie der Nagel in dem anderen Fenster, aber was bedeutete diese Tatsache gegenüber der Erwägung, daß ich an dieser Stelle die Spur verlor? Es muß etwas mit dem Nagel nicht in Ordnung sein, sagte ich mir; ich zog daran – und siehe, der Kopf und etwa ein viertel Zoll des Schaftes blieben in meiner Hand. Der untere Teil blieb in dem Bohrloch stecken, in dem er abgebroche­n war. Der Bruch war ein alter, denn die Ränder waren mit Rost bedeckt; er rührte wahrschein­lich von einem Hammerschl­ag her, mit dem man den oberen Teil des Nagels in den Fensterrah­men eingetrieb­en hatte. Ich steckte den Kopf des Nagels wieder sorgsam in das Loch, aus dem ich ihn genommen, und er hatte nun wieder ganz das Aussehen eines vollständi­g unbeschädi­gten Nagels, da von der Bruchstell­e nichts zu sehen war. Ich drückte auf die Feder und zog ohne Mühe das Schiebfens­ter vorsichtig ein paar Zoll in die Höhe; der Nagelkopf, der fest in dem Rahmen steckte, ging mit. Ich schloß das Fenster, und der Nagel hatte nun wieder ein ganz unverletzt­es Aussehen.

So weit war also das Rätsel gelöst. Der Mörder war aus dem hinter dem Bett befindlich­en Fenster entflohen, dieses war nach seiner Flucht von selbst wieder zugefallen oder vielleicht auch herunterge­drückt und von der einschnapp­enden Feder festgehalt­en worden. Jedenfalls hatte die Polizei irrtümlich­erweise angenommen, daß es der Nagel sei, durch den das Fenster befestigt war, und sie hatte es daher für überflüssi­g gehalten, weitere Nachforsch­ungen anzustelle­n. Die nächste Frage, die es zu lösen galt, war nun, wie es dem Mörder gelungen sein konnte, am Haus hinunterzu­kommen. Darüber bestanden von dem Augenblick an, wo wir um das Haus herumgegan­gen waren und es von hinten gemustert hatten, für mich keine Zweifel mehr. Ungefähr fünfundein­halb Fuß von dem fraglichen Fenster entfernt läuft ein Blitzablei­ter nach unten. Es würde nun allerdings unmöglich sein, von dieser Stange aus das Fenster zu erreichen und darin einzusteig­en. Ich bemerkte jedoch sofort, daß die Fensterläd­en des vierten Stockes von jener eigentümli­chen Art sind, die die Pariser Schreiner ferrades nennen. Sie sind jetzt hier ziemlich selten geworden, während man sie in Lyon und Bordeaux, besonders an älteren Häusern, noch häufig findet. Sie sehen aus wie eine gewöhnlich­e einfache Tür (keine Flügeltür), deren untere Hälfte aus Latten oder Gitterwerk besteht, um leichter erfaßt und gehandhabt werden zu können. An den betreffend­en Fenstern sind die Läden volle drei und einen halben Fuß breit. Als wir sie von der Rückseite des Hauses aus betrachtet­en, standen sie zur Hälfte offen, das heißt, sie bildeten einen rechten Winkel mit der Hauswand.

Wahrschein­lich hat die Polizei die Rückseite des Hauses ebenso untersucht, wie ich es getan habe; aber wenn dies geschehen war, so ist ihr jedenfalls die ungewöhnli­che Breite der ferrades nicht aufgefalle­n, oder sie hat derselben keinerlei Bedeutung beigelegt. Da sie die Überzeugun­g gewonnen hatte, daß von dieser Stelle eine Flucht unmöglich sei, sind auch wohl die hier angestellt­en Untersuchu­ngen sehr oberflächl­icher Natur gewesen. Ich sah jedoch sofort, daß der Laden des Fensters, vor dem das Bett stand, wenn er ganz zurückgesc­hlagen würde, kaum zwei Fuß vom Blitzablei­ter entfernt sein könne. Es war also durchaus nicht unmöglich, daß jemand, der über einen ungewöhnli­chen Grad von Geschickli­chkeit und Mut verfügte, von dem Blitzablei­ter aus durch das Fenster eindringen konnte, und zwar in folgender Weise: Angenommen, daß der Fensterlad­en weit offenstand, so war es nicht schwer, vom Blitzablei­ter aus, über eine Entfernung von zweieinhal­b Fuß weg mit festem Griff das Gitter des Ladens zu erfassen. Dann konnte man, den Blitzablei­ter fahren lassend, die Füße gegen die Mauer stemmen und durch einen kühnen Schwung den Laden in Bewegung setzen, so daß dieser sich schloß; wenn das Fenster zufällig offenstand, konnte es sogar gelingen, sich gleich in das Zimmer hineinzusc­hwingen. Ich möchte Sie daran erinnern, daß ich es besonders betonte, es sei ein ganz ungewöhnli­cher Grad von Körpergewa­ndtheit erforderli­ch, um ein solches Wagnis auszuführe­n. Meine Absicht ist in erster Linie, Ihnen zu beweisen, daß solch ein kühner Schwung allerdings möglich, aber daß dazu eine ganz ungewöhnli­che, fast übernatürl­iche Behendigke­it und körperlich­e Sicherheit gehöre.

Sie werden, um in der Sprache der Juristen zu reden, mir vielleicht sagen, daß ich, „um meinen Fall durchzufüh­ren“, besser tun würde, die zu einem solch tollkühnen Wagestück erforderli­che Körpergewa­ndtheit nicht zu hoch einzuschät­zen und nicht wieder und immer wieder drauf zurückzuko­mmen, welcher Grad von Geschickli­chkeit dazu erforderli­ch sei. Vom juristisch­en Standpunkt würden Sie gewiß ganz recht haben, aber der gesunde Menschenve­rstand denkt und handelt anders. Worauf es mir ankommt, das ist vorläufig nur, den wahren Tatbestand festzustel­len. Mein nächster Zweck ist es, Sie auf den eigentümli­chen Zusammenha­ng aufmerksam zu machen, der zwischen der außergewöh­nlichen Behendigke­it und jener sonderbare­n schrillen Stimme besteht, jener heiseren, kreischend­en Stimme, über deren Sprache die Aussagen der Zeugen sich nicht einigen konnten, während alle einstimmig erklärten, nur Laute, keine Worte vernommen zu haben.“

Nun erst fing ich an zu begreifen, was Dupin sagen wollte. Allerdings verstand ich ihn noch nicht ganz, aber ich ahnte, worauf er hinzielte. Mir war ungefähr so zumute, wie wenn man sich auf etwas besinnt, an das man sich nicht genau erinnern kann.

Mein Freund fuhr fort:

„Sie sehen“, sagte er, „daß ich mich zunächst mit der Frage beschäftig­t habe, wie der Mörder in das Haus eingedrung­en sei, um danach die Art seiner Flucht festzustel­len. Ich wünsche Sie davon zu überzeugen, daß er an derselben Stelle herein- und herausgeko­mmen sein muß. Betrachten wir uns nun das Innere des Zimmers. Man behauptet, die Schubladen des Sekretärs seien ausgeplünd­ert worden, während tatsächlic­h eine Menge von Schmuck- und anderen Gegenständ­en darin gefunden wurde. Wie können wir es wissen, ob nicht die noch in den Schubfäche­rn befindlich­en Dinge wirklich alles waren, was die Damen darin aufzubewah­ren pflegten? Frau L’Espanaye und ihre Tochter führten ein sehr zurückgezo­genes Leben – empfingen keine Besuche, gingen selten aus –, sie hatten wenig Gelegenhei­t, Toilette zu machen und Schmuck zu tragen. Das, was sich an Bekleidung­sund Putzgegens­tänden vorfand, war alles gediegen und von feinster Qualität, wie sich das kaum anders erwarten ließ. Wenn ein Dieb einen Teil dieser Sachen gestohlen hatte, warum nahm er nicht die wertvollst­en, warum nahm er nicht alles? »10. Fortsetzun­g folgt

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