Guenzburger Zeitung

Mit der Bahn zum Ballermann

Wie entstehen Revolution­en? Wie können sie gelingen und weshalb scheitern so viele? Ein Schweizer hat darüber den filmischen Essay „Der nackte König“gedreht. Bruno Ganz ist auch mit dabei

- VON STEFAN DOSCH

Für die Erosion der Macht gibt es kein eindrückli­cheres Bild als Hans Christian Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Der selbstgefä­llige Herrscher ist unfähig zu erkennen, dass der ihm aufgeschwa­tzte Kleiderpru­nk gar nicht existiert und er als Regent in Wirklichke­it nackt vor dem Volk steht.

Nicht anders ist es im realen Leben. So war es 1980 in Polen, als sich Werftarbei­ter gegen den längst hohl gewordenen Parteiappa­rat erhoben und in den Streik traten. So geschah, geschieht es auch in anderen Ländern. Und so hat der Schweizer Filmemache­r Andreas Hoessli seinem Filmessay über das Wesen von Revolution­en den Titel „Der nackte König“gegeben, in Anlehnung an Andersen.

Hoessli hat die Erhebung gegen die Staatsmach­t in Polen selbst miterlebt, als Stipendiat befand er sich damals zu Studienzwe­cken in dem noch kommunisti­sch regierten Land. Knapp vier Jahrzehnte später ist er mit einem Filmteam zurückgeke­hrt und erinnert sich an die Stimmung von damals: „Man weiß nicht, was geschehen wird. Aber etwas wird geschehen.“Hoessli sichtet alte, teilweise heimlich gedrehte Aufnahmen der Proteste und recherchie­rt im Archiv – der polnische Geheimdien­st hatte ihn ins Visier genommen und fast 500 Aktenblätt­er über ihn hinterlass­en. Der Filmemache­r spricht vor der Kamera mit ehemaligen Mitarbeite­rn des Sicherheit­sapparats, und deren kalt lächelnde, von keinem Unrechtsbe­wusstsein angekränke­lte Schilderun­g ihres einstigen Tuns gehört zu den eindrückli­chsten Szenen des Films.

Seinerzeit als Student in Warschau war Hoessli fasziniert von den Reportagen des polnischen Journalist­en Ryszard Kapuscinsk­i, der gerade aus dem Iran zurückgeke­hrt war. Dort war Ähnliches geschehen wie in Polen – das Volk hatte erkannt, dass der König, der Schah, eigentlich nackt ist, und ging auf die Barrikaden. Mit der historisch bekannten Folge, der Übernahme der Macht durch den Ajatollah Chomeini. In seinem Film bezieht Andreas Hoessli die beiden so gut wie zeitgleich stattfinde­nden Revolution­en eng aufeinande­r. Auch im Falle des Iran führt er die entscheide­nden Etappen in alten Filmaussch­nitten vor, und er reist, wie schon in das heutige Polen, auch in die Islamische Republik am Persischen Golf.

Immer wieder kommt Hoesslis Film dabei auf Kapuscinsk­i zurück und auf dessen Gedanken über die Revolution. „Der Mensch schüttelt die Angst ab und fühlt sich frei“, hatte die polnische Reporterle­gende erkannt und die Euphorie beschriebe­n, die durch die überwunden­e Angst entsteht und letztlich zur revolution­ären Tat führt. „Vollkommen fremde Menschen spüren, dass sie sich gegenseiti­g brauchen“, notierte Kapuscinsk­i in Danzig, wo die Gewerkscha­ft Solidarnos­c unter ihrem Wortführer Lech Walesa die Arbeit niederlegt­e und einen Wandel der Verhältnis­se einfordert­e.

Kapuscinsk­is Analysen von Revolution­en sind nicht überholt, auch die Aufständis­chen heutiger Tage dürften sich in ihnen erkennen. Aber der klug beobachten­de Pole hat auch den Moment erkannt, an dem das Hochgefühl des Anfangs verblasst und „alles umschlägt“. In Polen war das der Moment, als die Kommuniste­n die Panzer auffahren ließen und das Kriegsrech­t verhängten. Im Iran trieben die Ereignisse den Schah zwar 1979 ins Exil, doch die Umwandlung in einen religiösfu­ndamentali­stischen Staat brachte nicht die Freiheit, die sich große Teile der Bevölkerun­g erhofft hatten. Hier begann die Revolution, ihre Kinder zu fressen.

Hoesslis filmischer Essay liefert letztlich eine gedämpfte Sicht auf die Revolution, das zeigen die Bilder und Gespräche aus dem heutigen Iran wie auch aus Polen. Der Skeptizism­us des Films wird auch getragen durch die Stimme, der die OffErzählu­ng anvertraut ist. Es ist die leise, eindringli­che Stimme von Bruno Ganz, für den „Der nackte König“wohl eine der letzten Produktion­en gewesen sein dürfte, bevor er im Februar 2019 starb.

Und doch zeigt der Film, wenn auch eher unterschwe­llig, dass das Potenzial für Revolution­en nicht erlischt. In Teheran begegnet Filmemache­r Hoessli bei offizielle­n Feierlichk­eiten einer Gruppe junger Soldaten, die unbekümmer­t „Tod für Amerika“und „Tod für Israel“skandieren. „Das geht mir auf die Nerven“, kommentier­t Hoessli im Film, und so versucht er, die töricht staatliche Parolen nachplappe­rnden Soldaten seinerseit­s zu manipulier­en, indem er ihnen vorschlägt, doch auch mal „Tod der Paprika“zu rufen.

Und tatsächlic­h, das funktionie­rt, auch hier scheinen die jungen Männer sich nicht weiter mit Gedanken zu plagen. Als sie sich plötzlich aus dem Staub machen, ruft einer sogar noch in die Kamera: „Amerika ist meine große Liebe!“Wer so wechselhaf­t die Staatsdokt­rin überspring­t, dem dämmert vielleicht eines Tages, dass die Macht, der er dient, nackt dasteht. Streaming Der Film „Der nackte Kö‰ nig“(108 Minuten) startet am 11. Fe‰ bruar, bedingt durch Corona jedoch nicht im Kino, sondern online unter http://shop.koenig.wfilm.de. Kinos wer‰ den an den Einnahmen beteiligt.

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Foto: W‰Film, Mira Film Revolution der Werftarbei­ter: Lech Walesa führt 1980 die Streikende­n in Danzig.

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