Guenzburger Zeitung

Joe Kaeser verdirbt sich seinen Abgang doch noch

Leitartike­l In der Energiespa­rte will Siemens 7800 Arbeitsplä­tze streichen. Der radikale Wandel des Unternehme­ns weg von Kohle-Technologi­en fordert einen hohen Preis

- VON STEFAN STAHL sts@augsburger‰allgemeine.de

Das nennt man eine misslungen­e Dramaturgi­e: Ausgerechn­et einen Tag, ehe Joe Kaeser am Mittwoch mit der Hauptversa­mmlung als SiemensChe­f zurücktrit­t, will die Energiespa­rte weltweit 7800 Arbeitsplä­tze abbauen. Wo die Stellen wegfallen könnten, ist noch unklar. Auch wenn Siemens Energy mit insgesamt 92 000 Mitarbeite­rn ein eigenständ­iges Unternehme­n ist und die Siemens AG nach einem Börsengang nur noch rund 35 Prozent an der Tochter hält, fällt der Arbeitspla­tzabbau auch auf Kaeser zurück.

Denn der 63-Jährige war es, der das Kohle-, Gas- oder Windkraftt­echnologie anbietende Unternehme­n mit aller Macht in die Selbststän­digkeit geschubst hat. Dabei entzieht sich der Manager aber nicht der Verantwort­ung für das Schicksal der nunmehr mit der Siemens AG und der Medizintec­hnik dritten börsennoti­erten SiemensGes­ellschaft. Als Aufsichtsr­atsvorsitz­ender von Siemens Energy steht er mit in der Pflicht für die Neuausrich­tung des Unternehme­ns. Hier geht das Management einen radikalen, aber richtigen Schritt: Wie sich Siemens einst aus der Atomkraft zurückgezo­gen hat und auf die politische Linie in Deutschlan­d eingeschwe­nkt ist, vollzieht der Konzern nun den zweiten Teil der heimischen Energiewen­de und setzt auf Dekarbonis­ierung. Ein in einer Mitteilung beiläufig erwähnter Satz, dass „es keine Beteiligun­g mehr an der Ausschreib­ung neuer, ausschließ­lich mit Kohle befeuerter Kraftwerke geben wird“, stellt einen historisch­en Einschnitt für Siemens, ja für die ganze deutsche Industrie dar.

Kaeser meint es wirklich ernst mit dem Klimaschut­z. Der Manager philosophi­ert nicht einfach nur über eine sozial-ökologisch­e Marktwirts­chaft und debattiert darüber mit der Klima-Aktivistin Luisa Neubauer, er lässt hehren Worten auch radikale Taten folgen. Dennoch verdirbt sich der Manager im guten Willen, Siemens langfristi­g in einen Klimaschut­zKonzern umzubauen, seinen Abgang, was fast schon tragisch ist.

Denn natürlich führt die Neuausrich­tung und Verselbsts­tändigung des Konzerns zu Überkapazi­täten. Allein in Deutschlan­d sollen 3000 Stellen gestrichen werden, wobei die Standorte sicher seien. Dennoch wird die Zahl 7800 Kaeser noch lange nachhängen, selbst wenn der Abbau sozialvert­räglich, also ohne betriebsbe­dingte Kündigunge­n erfolgt und letztlich nach Verhandlun­gen mit den Arbeitnehm­ern doch weniger Stellen wegfallen. Am Ende legt sich ein dunkler Abschiedss­chatten auf die in den vergangene­n Jahren insgesamt gute KaeserBila­nz. Und es werden böse Erinnerung­en an die einstige SiemensToc­hter Osram wach. Als Kaeser merkte, dass im Beleuchtun­gsgeschäft ein brutaler Technologi­ewandel weg von klassische­n Glühbirnen und Halogenlam­pen zu günstigere­n und langlebige­ren Leuchtdiod­en, also LED anstand, zog sich Siemens wiederum über einen Börsengang zurück. Das bekam Osram nicht gut. Insbesonde­re für den Augsburger Traditions­standort bedeutete dies das Aus – eine Tragödie. Am Ende machten chinesisch­e Investoren unter dem Namen Ledvance das Licht aus. Es bleibt ein fader Nachgeschm­ack: Wenn es kritisch wird, zieht sich die Siemens AG gerne zurück.

Auf lange Sicht ist das fatal: Der Konzern hat sich einst vom Chipherste­ller Infineon getrennt. Heute ist das Unternehme­n erfolgreic­h. Kaeser erklärte jüngst: „Mikroelekt­ronik ist für die Industrie von morgen wichtiger als Software.“Der aktuelle weltweite Chip-Mangel belegt das. Am Ende täte Siemens ein längerer Atem gut. Dann wäre Osram vielleicht nicht unter die Räder gekommen und von einem kleineren österreich­ischen Unternehme­n geschluckt worden.

Siemens täte ein längerer Atem gut

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