Joe Kaeser verdirbt sich seinen Abgang doch noch
Leitartikel In der Energiesparte will Siemens 7800 Arbeitsplätze streichen. Der radikale Wandel des Unternehmens weg von Kohle-Technologien fordert einen hohen Preis
Das nennt man eine misslungene Dramaturgie: Ausgerechnet einen Tag, ehe Joe Kaeser am Mittwoch mit der Hauptversammlung als SiemensChef zurücktritt, will die Energiesparte weltweit 7800 Arbeitsplätze abbauen. Wo die Stellen wegfallen könnten, ist noch unklar. Auch wenn Siemens Energy mit insgesamt 92 000 Mitarbeitern ein eigenständiges Unternehmen ist und die Siemens AG nach einem Börsengang nur noch rund 35 Prozent an der Tochter hält, fällt der Arbeitsplatzabbau auch auf Kaeser zurück.
Denn der 63-Jährige war es, der das Kohle-, Gas- oder Windkrafttechnologie anbietende Unternehmen mit aller Macht in die Selbstständigkeit geschubst hat. Dabei entzieht sich der Manager aber nicht der Verantwortung für das Schicksal der nunmehr mit der Siemens AG und der Medizintechnik dritten börsennotierten SiemensGesellschaft. Als Aufsichtsratsvorsitzender von Siemens Energy steht er mit in der Pflicht für die Neuausrichtung des Unternehmens. Hier geht das Management einen radikalen, aber richtigen Schritt: Wie sich Siemens einst aus der Atomkraft zurückgezogen hat und auf die politische Linie in Deutschland eingeschwenkt ist, vollzieht der Konzern nun den zweiten Teil der heimischen Energiewende und setzt auf Dekarbonisierung. Ein in einer Mitteilung beiläufig erwähnter Satz, dass „es keine Beteiligung mehr an der Ausschreibung neuer, ausschließlich mit Kohle befeuerter Kraftwerke geben wird“, stellt einen historischen Einschnitt für Siemens, ja für die ganze deutsche Industrie dar.
Kaeser meint es wirklich ernst mit dem Klimaschutz. Der Manager philosophiert nicht einfach nur über eine sozial-ökologische Marktwirtschaft und debattiert darüber mit der Klima-Aktivistin Luisa Neubauer, er lässt hehren Worten auch radikale Taten folgen. Dennoch verdirbt sich der Manager im guten Willen, Siemens langfristig in einen KlimaschutzKonzern umzubauen, seinen Abgang, was fast schon tragisch ist.
Denn natürlich führt die Neuausrichtung und Verselbstständigung des Konzerns zu Überkapazitäten. Allein in Deutschland sollen 3000 Stellen gestrichen werden, wobei die Standorte sicher seien. Dennoch wird die Zahl 7800 Kaeser noch lange nachhängen, selbst wenn der Abbau sozialverträglich, also ohne betriebsbedingte Kündigungen erfolgt und letztlich nach Verhandlungen mit den Arbeitnehmern doch weniger Stellen wegfallen. Am Ende legt sich ein dunkler Abschiedsschatten auf die in den vergangenen Jahren insgesamt gute KaeserBilanz. Und es werden böse Erinnerungen an die einstige SiemensTochter Osram wach. Als Kaeser merkte, dass im Beleuchtungsgeschäft ein brutaler Technologiewandel weg von klassischen Glühbirnen und Halogenlampen zu günstigeren und langlebigeren Leuchtdioden, also LED anstand, zog sich Siemens wiederum über einen Börsengang zurück. Das bekam Osram nicht gut. Insbesondere für den Augsburger Traditionsstandort bedeutete dies das Aus – eine Tragödie. Am Ende machten chinesische Investoren unter dem Namen Ledvance das Licht aus. Es bleibt ein fader Nachgeschmack: Wenn es kritisch wird, zieht sich die Siemens AG gerne zurück.
Auf lange Sicht ist das fatal: Der Konzern hat sich einst vom Chiphersteller Infineon getrennt. Heute ist das Unternehmen erfolgreich. Kaeser erklärte jüngst: „Mikroelektronik ist für die Industrie von morgen wichtiger als Software.“Der aktuelle weltweite Chip-Mangel belegt das. Am Ende täte Siemens ein längerer Atem gut. Dann wäre Osram vielleicht nicht unter die Räder gekommen und von einem kleineren österreichischen Unternehmen geschluckt worden.
Siemens täte ein längerer Atem gut