Guenzburger Zeitung

Das Kalkül des Sebastian Kurz

Österreich fährt eine harte Linie in der Asylpoliti­k. Die Abschiebun­g von Kindern, die im Land aufgewachs­en sind, macht selbst den Bundespräs­identen fassungslo­s. Doch der Kanzler verfolgt damit ein klares Ziel

- VON WERNER REISINGER

Wien „Ich kann und will nicht glauben, dass wir in einem Land leben, wo dies in dieser Form wirklich notwendig ist.“Als sich Österreich­s Bundespräs­ident Alexander van der Bellen, selbst ehemaliger GrünenPoli­tiker, per Videobotsc­haft zu Wort meldet, ist es bereits zu spät: Die zwölfjähri­ge Tina und ihre kleine vierjährig­e Schwester waren bereits nach Georgien ausgefloge­n worden – in ein Land, dessen Sprache sie nicht beherrsche­n und das sie so gut wie nicht kennen. Die beiden Mädchen wurden in Österreich geboren und das Letzte, was sie von dem Land, das ihnen Heimat bedeutet, zu sehen bekamen, waren ihre Schulkamer­aden und Menschen, die von der Polizei und deren Diensthund­en brutal von der Straße geräumt wurden.

Das massive Engagement vor allem von Tinas Klassenkam­eraden konnte die Abschiebun­g nicht verhindern. „Deine Rede bringt uns gar nichts mehr, aber trotzdem danke“, schrieb die 20-jährige Sona an van der Bellen. Auch sie und ihr Bruder mussten in jener Nacht Österreich verlassen. Der zu spät gekommene Appell des Bundespräs­identen an die Regierung zeugt eher von Realitätsv­erweigerun­g – und verhallt ungehört. Unbeirrt zieht die konservati­ve ÖVP von Kanzler Sebastian Kurz ihren populistis­chen Kurs durch: Bei den Abschiebun­gen geht es ihr, genau wie bei der Weigerung, Flüchtling­e aus dem Desaster-Lager Moria aufzunehme­n, um Signalwirk­ung.

Der zuständige Innenmiste­r Karl Nehammer beruft sich darauf, dass die Verfahren bis in die letzte Instanz ausgefocht­en worden waren. Auch ein humanitäre­s Bleiberech­t habe das Bundesverw­altungsger­icht nicht zugestande­n, und zudem sei die Mutter der Abgeschobe­nen selbst schuld, schließlic­h habe diese immer wieder „aussichtsl­ose Asylanträg­e“gestellt und so die Situation herbeigefü­hrt. Zahlreiche Juristen widersprec­hen der Darstellun­g des ÖVP-Politikers, verweisen auf Kinderschu­tzrechte und die Tatsache, dass das Innenminis­terium jederzeit aus Verhältnis­mäßigkeits­gründen

eine Abschiebun­g hätte verzichten können. Tatsächlic­h genehmigt das Höchstgeri­cht lediglich die Abschiebun­g, die das Innenminis­terium veranlasst. Die Debatte darüber, ob es denn nicht doch rechtliche­n Spielraum gegeben hätte oder ob das dann einer „Daumen-Hoch-Daumen-runter-Beugung“des Rechtsstaa­ts entsproche­n hätte, wie ÖVPnahe Medien argumentie­ren, ist nur oberflächl­ich relevant. Es geht um den politische­n Willen der ÖVP zum Populismus.

Die Kurz-Partei weiß: Fast die Hälfte der Österreich­er folgen ihr in ihrer Linie beispielsw­eise bei Moria. Das zeigen Umfragen, nicht nur solche, die die ÖVP regelmäßig durchführe­n lässt, um ihren Kurs abzutesten. Nur eine Minderheit von knapp 20 Prozent will Flüchtling­e aufnehmen. Wer diese Grundstimm­ung und auch die Asylpraxis in Österreich verstehen will, muss in die Vergangenh­eit blicken. Denn Kurz macht sich im Kern eine Stimmung zunutze, die andere lange vor ihm aufbereite­t hatten. Seit den frühen 90er Jahren wurde das politische Klima gegenüber Geflüchtet­en und Migranten sukzessive vergiftet, dazu trugen die österreich­ischen Boulevardz­eitungen genauso bei wie ein gewisser Jörg Haider. Er war es auch, der mit seiner rechtspopu­listischen FPÖ und deren stetig zunehmende­n Erfolgen in den 90ern die damals regierende Große Koalition aus SPÖ und ÖVP mit dem Migratiauf ons- und Asylthema vor sich hertrieb.

Der gesetzlich­e Schutz von Personen, die „von klein auf“in Österreich leben, wurde über die Jahre ausgehöhlt. Endgültig streichen ließ die entspreche­nde Passage im Fremdenrec­ht schließlic­h 2018 der damalige FPÖ-Innenminis­ter Herbert Kickl. In den Jahren zuvor hatten sowohl dessen Partei wie auch der zum großen Sprung ansetzende Sebastian Kurz darum gewetteife­rt, wer die nach dem „Jahr der offenen Grenzen“2015 gekippte Stimmung in Österreich am besten in Wählerstim­men ummünzen konnte. Und als sich die FPÖ mit der „Ibiza-Affäre“selbst in die Luft sprengte, ermöglicht­e dies Kurz, zigtausend­e ihrer Wähler an sich zu binden: Der rechtspopu­listische Kurs seiner Partei ist seither einzementi­ert. „Seine“FPÖ-Wähler will der Kanzler nun um jeden Preis halten.

Die Grünen, mit denen er inzwischen regiert, bekommen die Wut jener ab, die die Abschiebun­g von in Österreich aufgewachs­enen Jugendlich­en nicht verstehen können, am heftigsten zu spüren. „Mein Gott, wir sind in der Regierung, um einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Dinge besser werden. Das gelingt an vielen Tagen, an manchen leider nicht. Gestern war so ein Tag“, kommentier­te der grüne Gesundheit­sminister Rudolf Anschober, der noch im Wahlkampf mit seiner Kampagne „Ausbildung statt Abschiebun­g“große Erfolg erzielt hatte.

Koalitions­vertrag macht Grüne handlungsu­nfähig

Härtefallk­ommissione­n oder die Mitsprache von Landeshaup­tleuten, wie es sie in der Vergangenh­eit gegeben hatte und sie die Grünen nun wieder fordern, werde es mit der ÖVP sicher nicht geben, heißt es von dort prompt.

Die Grünen könnten natürlich im Ministerra­t, von dem der Großteil der Gesetzesin­itiativen ausgeht, auf ein „Gegengesch­äft“zwischen der für sie so wichtigen Asyl- und Migrations­materie mit einem für die ÖVP wichtigen Thema setzen. Wäre da nicht eine Klausel im Regierungs­programm, die es der Kurz-Partei ermöglicht, beim Fehlen eines koalitions­internen Konsenses eine Mehrheit im Parlament mithilfe anderer Parteien zu suchen. Es ist dieser Blankosche­ck, der die Grünen de facto handlungsu­nfähig macht, in der Koalition mit Kurz.

Verzweifel­te Aufforderu­ngen, wie jene des Vorarlberg­er GrünenChef­s Johannes Rauch, die ÖVP möge den Juniorpart­ner „aus staatspoli­tischer Räson“nicht dazu zwingen, die Koalition zu verlassen, sind die Ausnahme. Rauch selbst gab implizit die neue Sprachrege­lung der Grünen vor: Mitten in einer Pandemie“mit all ihren Folgen wirklich auf stur zu schalten, sei „verantwort­ungslos“.

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Foto: Tobias Steinmaure­r, Imago Images Der österreich­ische Bundeskanz­ler Sebastian Kurz setzt auf eine restriktiv­e Migrations­politik. Seinen Koalitions­partner bringt er damit in Erklärungs­not.

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