„Ein Restrisiko gehört zu diesem Sport“
Karlheinz Waibel beschäftigt sich beim Skiverband mit den Themen Sicherheit und Sturzprävention. Warum sich der 54-Jährige die Zeitlupen genau ansieht und was er vom Airbag für Abfahrer hält
Herr Waibel, was geht in Ihnen vor, wenn Sie schwere Stürze wie die von Ryan Cochran-Siegle und Urs Kryenbühl auf der Streif in Kitzbühel sehen? Waibel: Da bin ich geschockt wie jeder andere auch und denke an den Fahrer, für den so ein Sturz schwere Folgen hat. Ich sehe mir die Zeitlupen davon nicht gerne an, aber ich tue es, um zu analysieren, wie es dazu gekommen ist.
Der Zielsprung in Kitzbühel ging in diesem Jahr extrem weit. Dafür gab es von verschiedenen Seiten Kritik. Nehmen die Veranstalter auf Kosten der Rennläufer zu viel Risiko in Kauf, um den Zuschauern ein echtes Spektakel zu liefern? Gehören Stürze bei der Abfahrt einfach dazu?
Waibel: Niemand provoziert Stürze. Die Veranstalter und alle anderen Beteiligten sind sich ihrer Verantwortung absolut bewusst. Es gibt einen Race-Direktor der Fis, der sich vor dem ersten Trainingslauf alles genau anschaut, die Strecke und die Sprünge mit baut und den Kurs aussteckt. Die Trainer und Athleten können nach der Besichtigung des Kurses sagen, ob an einem Sprung oder einer anderen Passage etwas geändert werden muss. Es werden zum Teil Testfahrer eingesetzt. Aber trotz aller Sicherheitsstufen kann etwas übersehen werden. Das ist alles unglaublich komplex. Wird es am Renntag etwas kälter, sind die Fahrer plötzlich drei, vier Stundenkilometer schneller – und schon geht ein Sprung viel weiter als im Training. Was willst du da machen? Einen Gleittest auf komplett glattgebügelten Abfahrtspisten will keiner, auch oder gerade die Fahrer nicht. Ein gewisses Restrisiko gehört einfach zu diesem Sport.
Macht das auch den Reiz für die Athleten aus?
Waibel: Auf jeden Fall. Als Skirennsportler gehörst du einer Elite an. Du kannst Dinge, die andere eben nicht können. Du managst Situationen, wie die Mausefalle in Kitzbühel, was nur ganz wenige Menschen schaffen. Das ist ein Teil der Faszination dieses Sports, und dazu gehört auch das Management des Risikos. Wir müssen aber unseren Anteil dazu beitragen, dass es keine schweren Verletzungen gibt. Allerdings können wir im Skirennsport nicht wie in der Formel 1 ein Monocoque um den Fahrer bauen.
Immerhin gibt es neben dem Helm seit ein paar Jahren einen Airbag als Schutz für Rücken, Brust und Schulter. Doch längst nicht alle Läufer nutzen den Airbag, was der Laie nicht versteht.
Waibel: Der Athlet fragt sich, was bringt das Teil und inwieweit beeinträchtigt es mich, gibt es Einschränkungen? Im Falle des Airbags ist es halt so, dass es vergleichsweise wenige Rücken- oder Brustkorbverletzungen gibt und jeder Athlet mit einem Rückenprotektor fährt. Gleichzeitig machen die eingearbeiteten Plastikkissen während der Fahrt nicht alle Bewegungen mit, es bilden sich Falten im Rennanzug – was sich auf die Aerodynamik negativ auswirken kann. Und gerade in der Abfahrt ist die Aerodynamik unwahrscheinlich wichtig. Man doktert hier an den kleinsten Dingen herum und geht deshalb ungern Kompromisse ein. Am Ende wird ja der Schnellste gefeiert und nicht derjenige, der am sichersten unten ankommt. Und wie gesagt, der Oberkörper, den der Airbag schützt, ist nicht der Verletzungs-Hotspot, sondern eindeutig das Knie.
Es scheint so, als wären die menschlichen Kreuzbänder mit dem modernen Skimaterial überfordert, das immer schnellere Kurvengeschwindigkeiten zulässt. Warum wird hier das Rad nicht zum Schutz der Fahrer etwas zurückgedreht?
Waibel: Auch hier gilt: Das ist alles wahnsinnig komplex. Der Rennläufer wird immer versuchen, mit dem vorgegebenen Material möglichst schnell unterwegs zu sein. Vor einigen Jahren hat man seitens der Fis für die Herren weniger taillierte Ski mit einem 35 Meter- statt 27 MeterRadius vorgeschrieben – um die Kurvenkräfte zu reduzieren. In der Folge hatten aber extrem viele Fahrer mit massiven Rückenproblemen zu kämpfen, ohne dass die Zahl der Knieverletzungen spürbar reduziert wurde. Um mit diesem Skimaterial schnelle Kurven fahren zu können, wurden Rumpf und Rücken noch mehr als ohnehin schon belastet. Deshalb ist man wieder zu Ski mit einem 30 Meter-Radius zurückgekehrt und hat aus meiner Sicht einen guten Kompromiss gefunden. Das Beispiel zeigt eindrucksvoll, was passieren kann, wenn man an einem
Schräubchen dreht, ohne das Gesamtgefüge im Blick zu haben.
Der Airbag ist mit modernster Sensorik ausgestattet, die Sturzsituationen in Millisekunden erkennt. Warum ersetzt die digitale Technik nicht die rein mechanische Auslösung bei der Skibindung? An der hat sich seit vielen Jahren kaum etwas verändert.
Waibel: Wieder ein schwieriges Thema. Es stimmt: Der Airbag hat in der Praxis gezeigt, dass die Sensorik funktioniert und das macht Hoffnung für die Entwicklung anderer Sicherheitssysteme. Aber viele Knieverletzungen passieren nicht nach, sondern vor dem Sturz. In diesen Fällen würde es also nichts bringen, wenn eine elektronische Sensorik die Bindung beim Sturz auslöst. Es könnten allenfalls diejenigen Knieverletzungen vermieden werden, die infolge eines Sturzes passieren. Aber was man in diesem Zusammenhang nicht unterschätzen darf: Sind die Ski nach einem Sturz noch an den Beinen, nehmen sie viel
Energie auf und können damit die Rutschphase des gestürzten Läufers verlangsamen, was man am Beispiel Ryan Cochran-Siegle in Kitzbühel gesehen hat. Verliert der die Ski gleich nach dem ersten Aufprall, kracht er eventuell mit noch höherer Geschwindigkeit in die Fangnetze und verletzt sich womöglich weitaus schwerer.
Keine wirkliche Verbesserung in Sicht – das muss doch frustrierend sein. Was kann man zum Schutz der Fahrer überhaupt tun?
Waibel: Immer genau hinschauen, um eventuell noch nicht erkannte Risikofaktoren zu identifizieren oder Material-Exzesse zu verhindern. Gleichzeitig habe ich schon die Hoffnung, dass wir aktive Systeme gegen Knieverletzungen entwickeln werden. Der Airbag macht mir Mut, weil die Sensorik tatsächlich Stürze erkennt und vielleicht auch mal ein Algorithmus für einen intelligenten Kniegelenkschutz gefunden wird. Smart-Textiles können hier eine wichtige Rolle spielen, und zwar bei der Erkennung untypischer oder unphysiologischer Bewegungen des Knies. Diese Fasern würden sich dann straffen und dem Knie zusätzlichen Halt geben können, um es vor Verletzungen zu schützen beziehungsweise der Muskulatur die Zeit geben, das Gelenk zu stabilisieren – wie eine Art Gurtstraffer. Aber es wird leider noch dauern, bis das so weit ist.
Interview: Roland Wiedemann 3. LIGA VOM MONTAG
BUNDESLIGA, MÄNNER