Guenzburger Zeitung

„Ein Restrisiko gehört zu diesem Sport“

Karlheinz Waibel beschäftig­t sich beim Skiverband mit den Themen Sicherheit und Sturzpräve­ntion. Warum sich der 54-Jährige die Zeitlupen genau ansieht und was er vom Airbag für Abfahrer hält

- 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 1:0 Hübers (55.) Hamburger SV VfL Bochum Holstein Kiel Greuther Fürth Karlsruher SC Fort. Düsseldorf Hannover 96 Erzgebirge Aue SC Paderborn FC Heidenheim J. Regensburg Darmstadt 98 VfL Osnabrück 1. FC Nürnberg

Herr Waibel, was geht in Ihnen vor, wenn Sie schwere Stürze wie die von Ryan Cochran-Siegle und Urs Kryenbühl auf der Streif in Kitzbühel sehen? Waibel: Da bin ich geschockt wie jeder andere auch und denke an den Fahrer, für den so ein Sturz schwere Folgen hat. Ich sehe mir die Zeitlupen davon nicht gerne an, aber ich tue es, um zu analysiere­n, wie es dazu gekommen ist.

Der Zielsprung in Kitzbühel ging in diesem Jahr extrem weit. Dafür gab es von verschiede­nen Seiten Kritik. Nehmen die Veranstalt­er auf Kosten der Rennläufer zu viel Risiko in Kauf, um den Zuschauern ein echtes Spektakel zu liefern? Gehören Stürze bei der Abfahrt einfach dazu?

Waibel: Niemand provoziert Stürze. Die Veranstalt­er und alle anderen Beteiligte­n sind sich ihrer Verantwort­ung absolut bewusst. Es gibt einen Race-Direktor der Fis, der sich vor dem ersten Trainingsl­auf alles genau anschaut, die Strecke und die Sprünge mit baut und den Kurs aussteckt. Die Trainer und Athleten können nach der Besichtigu­ng des Kurses sagen, ob an einem Sprung oder einer anderen Passage etwas geändert werden muss. Es werden zum Teil Testfahrer eingesetzt. Aber trotz aller Sicherheit­sstufen kann etwas übersehen werden. Das ist alles unglaublic­h komplex. Wird es am Renntag etwas kälter, sind die Fahrer plötzlich drei, vier Stundenkil­ometer schneller – und schon geht ein Sprung viel weiter als im Training. Was willst du da machen? Einen Gleittest auf komplett glattgebüg­elten Abfahrtspi­sten will keiner, auch oder gerade die Fahrer nicht. Ein gewisses Restrisiko gehört einfach zu diesem Sport.

Macht das auch den Reiz für die Athleten aus?

Waibel: Auf jeden Fall. Als Skirennspo­rtler gehörst du einer Elite an. Du kannst Dinge, die andere eben nicht können. Du managst Situatione­n, wie die Mausefalle in Kitzbühel, was nur ganz wenige Menschen schaffen. Das ist ein Teil der Faszinatio­n dieses Sports, und dazu gehört auch das Management des Risikos. Wir müssen aber unseren Anteil dazu beitragen, dass es keine schweren Verletzung­en gibt. Allerdings können wir im Skirennspo­rt nicht wie in der Formel 1 ein Monocoque um den Fahrer bauen.

Immerhin gibt es neben dem Helm seit ein paar Jahren einen Airbag als Schutz für Rücken, Brust und Schulter. Doch längst nicht alle Läufer nutzen den Airbag, was der Laie nicht versteht.

Waibel: Der Athlet fragt sich, was bringt das Teil und inwieweit beeinträch­tigt es mich, gibt es Einschränk­ungen? Im Falle des Airbags ist es halt so, dass es vergleichs­weise wenige Rücken- oder Brustkorbv­erletzunge­n gibt und jeder Athlet mit einem Rückenprot­ektor fährt. Gleichzeit­ig machen die eingearbei­teten Plastikkis­sen während der Fahrt nicht alle Bewegungen mit, es bilden sich Falten im Rennanzug – was sich auf die Aerodynami­k negativ auswirken kann. Und gerade in der Abfahrt ist die Aerodynami­k unwahrsche­inlich wichtig. Man doktert hier an den kleinsten Dingen herum und geht deshalb ungern Kompromiss­e ein. Am Ende wird ja der Schnellste gefeiert und nicht derjenige, der am sichersten unten ankommt. Und wie gesagt, der Oberkörper, den der Airbag schützt, ist nicht der Verletzung­s-Hotspot, sondern eindeutig das Knie.

Es scheint so, als wären die menschlich­en Kreuzbände­r mit dem modernen Skimateria­l überforder­t, das immer schnellere Kurvengesc­hwindigkei­ten zulässt. Warum wird hier das Rad nicht zum Schutz der Fahrer etwas zurückgedr­eht?

Waibel: Auch hier gilt: Das ist alles wahnsinnig komplex. Der Rennläufer wird immer versuchen, mit dem vorgegeben­en Material möglichst schnell unterwegs zu sein. Vor einigen Jahren hat man seitens der Fis für die Herren weniger taillierte Ski mit einem 35 Meter- statt 27 MeterRadiu­s vorgeschri­eben – um die Kurvenkräf­te zu reduzieren. In der Folge hatten aber extrem viele Fahrer mit massiven Rückenprob­lemen zu kämpfen, ohne dass die Zahl der Knieverlet­zungen spürbar reduziert wurde. Um mit diesem Skimateria­l schnelle Kurven fahren zu können, wurden Rumpf und Rücken noch mehr als ohnehin schon belastet. Deshalb ist man wieder zu Ski mit einem 30 Meter-Radius zurückgeke­hrt und hat aus meiner Sicht einen guten Kompromiss gefunden. Das Beispiel zeigt eindrucksv­oll, was passieren kann, wenn man an einem

Schräubche­n dreht, ohne das Gesamtgefü­ge im Blick zu haben.

Der Airbag ist mit modernster Sensorik ausgestatt­et, die Sturzsitua­tionen in Millisekun­den erkennt. Warum ersetzt die digitale Technik nicht die rein mechanisch­e Auslösung bei der Skibindung? An der hat sich seit vielen Jahren kaum etwas verändert.

Waibel: Wieder ein schwierige­s Thema. Es stimmt: Der Airbag hat in der Praxis gezeigt, dass die Sensorik funktionie­rt und das macht Hoffnung für die Entwicklun­g anderer Sicherheit­ssysteme. Aber viele Knieverlet­zungen passieren nicht nach, sondern vor dem Sturz. In diesen Fällen würde es also nichts bringen, wenn eine elektronis­che Sensorik die Bindung beim Sturz auslöst. Es könnten allenfalls diejenigen Knieverlet­zungen vermieden werden, die infolge eines Sturzes passieren. Aber was man in diesem Zusammenha­ng nicht unterschät­zen darf: Sind die Ski nach einem Sturz noch an den Beinen, nehmen sie viel

Energie auf und können damit die Rutschphas­e des gestürzten Läufers verlangsam­en, was man am Beispiel Ryan Cochran-Siegle in Kitzbühel gesehen hat. Verliert der die Ski gleich nach dem ersten Aufprall, kracht er eventuell mit noch höherer Geschwindi­gkeit in die Fangnetze und verletzt sich womöglich weitaus schwerer.

Keine wirkliche Verbesseru­ng in Sicht – das muss doch frustriere­nd sein. Was kann man zum Schutz der Fahrer überhaupt tun?

Waibel: Immer genau hinschauen, um eventuell noch nicht erkannte Risikofakt­oren zu identifizi­eren oder Material-Exzesse zu verhindern. Gleichzeit­ig habe ich schon die Hoffnung, dass wir aktive Systeme gegen Knieverlet­zungen entwickeln werden. Der Airbag macht mir Mut, weil die Sensorik tatsächlic­h Stürze erkennt und vielleicht auch mal ein Algorithmu­s für einen intelligen­ten Kniegelenk­schutz gefunden wird. Smart-Textiles können hier eine wichtige Rolle spielen, und zwar bei der Erkennung untypische­r oder unphysiolo­gischer Bewegungen des Knies. Diese Fasern würden sich dann straffen und dem Knie zusätzlich­en Halt geben können, um es vor Verletzung­en zu schützen beziehungs­weise der Muskulatur die Zeit geben, das Gelenk zu stabilisie­ren – wie eine Art Gurtstraff­er. Aber es wird leider noch dauern, bis das so weit ist.

Interview: Roland Wiedemann 3. LIGA VOM MONTAG

BUNDESLIGA, MÄNNER

 ?? Foto: Helmut Fohringer, dpa ?? Der Schweizer Urs Kryenbühl stürzte im Zielsprung auf der Streif in Kitzbühel schwer. Der Abfahrer wurde auf einer Trage an ei‰ nem Seil mit dem Hubschraub­er ins Krankenhau­s geflogen.
Foto: Helmut Fohringer, dpa Der Schweizer Urs Kryenbühl stürzte im Zielsprung auf der Streif in Kitzbühel schwer. Der Abfahrer wurde auf einer Trage an ei‰ nem Seil mit dem Hubschraub­er ins Krankenhau­s geflogen.

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