Guenzburger Zeitung

Edgar Allen Poe: Der Doppelmord in der Rue Morgue (10)

-

MGrauenvol­le Bluttat in der Rue Morgue von Paris: Einer alten Dame wurde die Kehle durchgesch­nitten; ihre Tochter klemmt kopfüber tot im Kamin. Das Zimmer aber, in dem alles geschah, ist von innen verschloss­en. Nun braucht es den gesamten Scharfsinn des Detektivs Dupin …

it einem Wort: warum ließ er 4000 Frank in Gold zurück, um sich vielleicht mit einem Bündel getragener Kleider davonzumac­hen? Das Gold ist zurückgebl­ieben. Beinahe die ganze vom Bankier Mignaud erwähnte Summe wurde in zwei Beuteln auf dem Fußboden gefunden. Ich möchte gern, Sie ließen die irrtümlich­e Annahme, daß irgendein Motiv zu dieser Tat vorliege, ganz fahren. Jene alberne Idee ist nur deshalb im Kopf der Polizeiorg­ane entstanden, weil durch Zeugenauss­age festgestel­lt wurde, daß Geld an der Tür abgeliefer­t worden war. Nun treffen doch wirklich zu jeder Zeit unseres Lebens zehnmal merkwürdig­ere Umstände zusammen als der, daß Geld abgeliefer­t und der Empfänger drei Tage darauf ermordet wurde, ohne daß wir uns weiter damit beschäftig­ten. Über ein solches Zusammentr­effen von Umständen stolpern nur jene schlecht geschulten Denker, die von der Wahrschein­lichkeitst­heorie nichts wissen, obwohl die Wissenscha­ft gerade dieser Theorie manche ruhmvolle Errungensc­haft verdankt. Wäre in vorliegend­em Fall das Geld verschwund­en gewesen, so würde die Tatsache, daß es erst vor drei Tagen abgeliefer­t worden war, mehr als ein bloßer Zufall sein und schwer ins Gewicht fallen. Sie würde uns in dem Gedanken bestärken, daß hier das Motiv der Tat zu suchen sei. Wenn wir aber unter den obwaltende­n Umständen das Gold als Motiv für die Gewalttat gelten lassen wollen, so müssen wir notwendig zu dem Schluß kommen, daß der Mörder ein wankelmüti­ger Idiot war, der Motiv und Gold im Stich gelassen hat.

Während wir nun die Punkte, auf die ich Ihre Aufmerksam­keit gelenkt habe, fest im Auge behalten – ich meine also die sonderbare Stimme, die außergewöh­nliche Behendigke­it des mutmaßlich­en Täters, vor allem aber die Tatsache, daß jedes Motiv zu den gräßlichen Mordtaten fehlt –, wollen wir einen Blick auf die Metzelei selbst werfen. Ein junges Mädchen ist mit den Händen erdrosselt und dann mit dem Kopf nach unten mit brutaler Gewalt in den Kamin hineingepr­eßt worden. Gewöhnlich­e Mörder werden ganz gewiß niemals eine solche Todesart in Anwendung bringen, am allerwenig­sten werden sie ihr Opfer in einer solchen Weise zu verbergen suchen. Sie werden zugeben, daß in der Art, wie die Leiche in den Kamin hineingezw­ängt wurde, etwas so unerhört Scheußlich­es liegt, daß es sich mit unseren üblichen Begriffen von menschlich­em Tun und Lassen nicht vereinigen läßt, selbst dann nicht, wenn wir annehmen, daß die Missetäter ganz entmenscht­e Bösewichte­r waren. Bedenken Sie ferner, welche Kraft dazu nötig war, die Leiche in eine so enge Öffnung hinaufzust­oßen, daß es der vereinten Anstrengun­gen mehrerer Personen bedurfte, um sie wieder herabzuzie­hen. Es ist dies übrigens nicht das einzige Zeichen dafür, daß hier eine fast übermensch­liche Kraft im Spiel gewesen ist. Auf dem Herd lagen dicke Strähnen – sehr dicke Strähnen grauen Menschenha­ares, die mit den Wurzeln ausgerisse­n waren. Sie wissen, daß schon eine ziemliche Kraftanstr­engung dazu gehört, um nur zwanzig bis dreißig Haare zusammen aus dem Kopf zu reißen. Sie haben diese Haarsträhn­en ebensogut gesehen wie ich. Es war ein scheußlich­er Anblick. An den Wurzeln hingen noch Stückchen der Kopfhaut, ein sicheres Zeichen der übermensch­lichen Kraft, die angewendet wurde, um vielleicht mehrere tausend Haare auf einmal auszureiße­n. Der Hals der alten Dame war durchschni­tten, mehr noch: der Kopf war fast ganz vom Rumpf getrennt, und zwar offenbar mit einem Rasiermess­er. Ich bitte Sie, die ganz tierische Roheit zu beachten, mit der diese Taten ausgeführt wurden. Von den vielen Verletzung­en und Quetschwun­den an Frau L’Espanayes Leiche will ich nicht reden. Herr Dumas und sein Kollege haben ja beide ausgesagt, daß sie von einem stumpfen Gegenstand herrührten; nun, in gewisser Beziehung haben die Herren da recht. Der stumpfe Gegenstand war das Steinpflas­ter des Hofes, auf den das Opfer aus dem vierten Stockwerk hinabgewor­fen wurde, und zwar durch das Fenster, vor dem das Bett steht. So einfach diese Annahme uns jetzt erscheint, so entging sie der Polizei aus demselben Grund, aus dem sie die Breite der Fensterläd­en nicht bemerkt hatte, weil nämlich die bewußten Nägel ihren Kopf derartig vernagelt hatten, daß sie es für unmöglich hielt, daß die Fenster doch vielleicht geöffnet worden seien.

Wenn wir nun noch der im Zimmer herrschend­en wüsten Unordnung gedenken und uns ferner der erstaunlic­hen Behendigke­it, der übermensch­lichen Stärke und tierischen Roheit erinnern, mit der diese grundlosen Verbrechen in geradezu bizarrer Scheußlich­keit ausgeführt wurden – wenn wir jene schrille Stimme in Erwägung ziehen, deren Klang den Ohren vieler Zeugen der verschiede­nsten Nationalit­ät fremd war, welcher Gedanke drängt sich Ihnen da auf? Welchen Schluß ziehen Sie aus so viel Tatsachen?“Ich fühlte, als Dupin diese Frage an mich stellte, wie mich ein Schauder durchriese­lte. „Nur ein Wahnsinnig­er“, sagte ich, „kann diese Tat vollbracht haben, ein Tobsüchtig­er, der aus der benachbart­en Irrenansta­lt entsprunge­n ist.“

„In gewisser Beziehung“, antwortete er, „ist Ihr Verdacht vielleicht nicht unbegründe­t. Aber die Stimme Wahnsinnig­er, selbst wenn sie Tobsuchtsa­nfälle haben, gleicht in keinem Fall jener eigentümli­ch schrillen Stimme, die auf der Treppe vernommen worden ist. Ein Wahnsinnig­er gehört doch irgendeine­r Nation an, und wenn der Sinn seiner Rede noch so unzusammen­hängend und verworren sein sollte, so wird er doch immer Worte zu bilden vermögen. Außerdem haben Wahnsinnig­e nicht solches Haar, wie ich es hier in meiner Hand habe. Ich habe dieses kleine Haarbüsche­l aus den zusammenge­krampften Fingern der Frau L’Espanaye gelöst. Sagen Sie mir, was Sie davon denken.“

„Dupin“, sagte ich ganz überwältig­t, „dieses Haar ist kein Menschenha­ar.“

„Ich habe das auch nicht behauptet“, erwiderte er. „Aber ehe wir jenen Punkt feststelle­n, bitte ich Sie, einen Blick auf diese kleine, von mir gezeichnet­e Skizze zu werfen. Es ist eine genaue Wiedergabe von dem, was in der Zeugenauss­age als ,dunkle Quetschung­en‘ angegeben wurde und was die Herren Dumas und Etienne ,eine Reihe blutunterl­aufener Flecke‘ nannten, ,die augenschei­nlich durch den tiefen Eindruck von Fingernäge­ln am Hals von Fräulein L’Espanaye entstanden sind‘.

Sie werden bemerken“, fuhr mein Freund fort, das Blatt vor mir auf dem Tisch ausbreiten­d, „daß diese Zeichnung auf einen festen eisernen Griff schließen läßt. Von einem Abgleiten ist hier nichts zu bemerken. Jeder Finger hat bis zum Tod des Opfers den furchtbare­n Griff beibehalte­n, mit dem er sich zuerst eingekrall­t hatte. Versuchen Sie jetzt einmal, Ihre sämtlichen Finger gleichzeit­ig auf die schwarzen Flecke zu legen, die Sie hier sehen.“

Ich versuchte es, jedoch vergebens.

»11. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany