Guenzburger Zeitung

Jeder für sich? Das ist auch keine Lösung

Leitartike­l Die Europäisch­e Union hat den Impfstart vermasselt und uns allen schwer geschadet. Nationalen Egoismus nun als Rezept zu verkaufen, schadet aber genauso

- VON GREGOR PETER SCHMITZ gps@augsburger‰allgemeine.de

In der Impfwut ist offenbar jedes wütende Klischee erlaubt. Die BILD-Zeitung druckte gerade ein Foto, das angeblich die europäisch­e Gesundheit­skommissar­in Stella Kyriakides im September vorigen Jahres entspannt auf ihrem Balkon zeigt. Die Zeitung schimpft über die „Füße-hochKommis­sarin“– und suggeriert, die Zypriotin habe es sich damals in der Sonne gut gehen lassen, statt frühzeitig Impfstoff gegen Corona zu besorgen. Deswegen wohl, so der versteckte Vorwurf, müssten nun so viele Europäer sterben.

Das ist ein plumper, ein schlimmer Angriff auf die angeblich so unfähigen und arroganten „Brüsseler Bürokraten“. Noch schlimmer ist aber: Europa und die EU derzeit gegen solche Attacken zu verteidige­n fällt leider verdammt schwer – weil die Europäisch­e Union und ihre Beamten in den vergangene­n Monaten leider verdammt viel falsch gemacht haben.

Dabei war die Idee, eine gemeinsame Lösung für den Kontinent zu finden, natürlich richtig. Doch in das EU-Korps hatte sich Größenwahn eingeschli­chen, was neben vielen Stärken eine Schwäche der hoch qualifizie­rten Bürokraten ist. Befeuert wurde dieser Eifer durch Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen, von Selbstgefä­lligkeit ebenfalls nicht frei. Natürlich gefiel ihr die Idee, sie könne – vielleicht im Duett mit ihrer Parteifreu­ndin Angela Merkel – den Kontinent vor dem Virus retten.

Wer die EU-Strukturen kennt, weiß aber: Gesundheit­spolitik ist Sache der Mitgliedst­aaten, deswegen haben sich mächtige Länder selten um das Ressort gerissen. Auch die Beamten in der Kommission, die etwa im Wettbewerb­srecht jeden Weltkonzer­n in die Knie zwingen können, waren mangels Übung auf beinharte Einkaufsve­rhandlunge­n mit Pharmafirm­en kaum vorbereite­t. Dass sich dann noch Staatenlen­ker wie Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron (den das Impfdesast­er die nächste Wahl kosten könnte) oder Kanzlerin Merkel ständig einmischte­n? Gar keine gute Idee.

Dem europäisch­en Zusammenha­lt haben sie alle so einen Bärendiens­t erwiesen. Warum die EUImpfoffe­nsive genau schief lief, verstehen nur Insider. Dass auf dem Kontinent erst wenige geimpft sind, in den USA oder Großbritan­nien aber schon viele, versteht hingegen jeder. Das ist ein unverhofft­es Geschenk für Europa-Gegner wie den britischen Premier Boris Johnson. Dem setzten die vielen Corona-Toten in seinem Land und immer spürbarere Nachteile seines Brexit-Deals daheim eigentlich mächtig zu. Nun aber kann er sich feiern lassen, weil man dank seiner Brexit-Genialität ja nichts mehr mit verschnarc­hten Impfzögere­rn zu tun habe. Donald Trump ist nicht mehr im Amt – aber wäre er es, würde er schreien: America First.

Wollen wir so werden? Natürlich nicht. Gewiss, es ist kein Impfnation­alismus, im eigenen Land so schnell wie möglich so viele Impfungen wie möglich zu fordern. Aber umgekehrt stimmt es noch lange nicht, dass jedes Land am besten alleine eine Lösung für die vielleicht größte globale Krise findet. Wollen wir den Gedanken eines internatio­nalen Miteinande­rs ganz aufgeben, nur weil Krise ist?

Dabei geht es ja nicht nur um das Impf-Rennen im Westen. Es geht auch um den Rest der Welt, wo viele ärmere Staaten noch gar nicht auf Impfstoff hoffen dürfen – und Solidarfon­ds für sie bislang eher mit Almosen bestückt werden.

Natürlich müssen wir einen deutschen Bundesgesu­ndheitsmin­ister gerade drängen, für uns Bürger Impfstoff einzukaufe­n, was das Zeug hält. Aber irgendwann müssen wir auch mal wieder darüber nachdenken (dürfen), wie wir diese Weltkrise gemeinsam hinbekomme­n – in Europa und in der Welt.

Wollen wir werden wie Johnson oder Trump?

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