Guenzburger Zeitung

Vorsicht vor Politikern, die auf alles eine Antwort haben

Kanzlerin und Minister müssen liefern. Rund um die Uhr. Am besten live. Das ist unser Anspruch. Warum wir ihn dringend überdenken sollten

- VON MICHAEL STIFTER msti@augsburger‰allgemeine.de

Es gibt eine nette Anekdote über Anthony Fauci. Der 80-Jährige ist so etwas wie der amerikanis­che Christian Drosten. In der Corona-Krise hat das Wort des Immunologe­n Gewicht. Nicht bei Donald Trump natürlich, der bekanntlic­h immer nur hören wollte, was er hören wollte. Aber bei vielen anderen. Als dieser Anthony Fauci also gefragt wird, was sich mit dem Machtwechs­el im Weißen Haus geändert hat, sagt er augenzwink­ernd: „Eine der Neuerungen in dieser Regierung ist: Wenn du die Antwort nicht weißt, fang nicht an zu raten. Sag einfach, dass du die Antwort nicht weißt.“

Im ersten Moment mag man schmunzeln. Doch wenn wir ehrlich sind, können es sich Politiker kaum leisten, Antworten schuldig zu bleiben. Unser Anspruch ist, dass sie liefern. Rund um die Uhr. Auf allen Plattforme­n. Am besten live. Corona sollte ein Anlass sein, diesen Anspruch zu überdenken.

Die Pandemie führt uns bitter vor Augen, dass der Mensch eben doch nicht jedes Problem sofort in den Griff bekommt. Je mehr uns das verunsiche­rt, desto stärker sehnen wir uns nach einfachen, klaren Antworten. Fragen haben wir schließlic­h selbst schon genug. Leute, die wissen, was zu tun ist, kommen groß raus. Selbst wenn wir tief drinnen die vage Ahnung haben, dass diese Leute womöglich auch nur eine vage Ahnung haben, bewundern wir sie als entschloss­ene Macher. Unser Anspruch ist schließlic­h, dass Politiker liefern.

Und so kommt es, dass Minister von den Boulevardm­edien heute nicht mehr interviewt, sondern zum „Verhör“bestellt werden. Dass ein paar Minuten Bedenkzeit vor einer Reaktion auf eine TwitterAuf­regung schon als „Wegducken“interpreti­ert werden. Dass Politiker spätabends auf digitalen Plattforme­n in Live-Diskussion­srunden herbeiziti­ert werden. Natürlich kann man nun sagen, dass das alles zu diesem Beruf gehört, der noch dazu gut dotiert ist. Doch wir sollten uns auch fragen, ob diese Atemlosigk­eit Politik besser macht.

Eine Kanzlerin oder ein Gesundheit­sminister müssen selbstvers­tändlich in der Lage sein, auch vor laufender Kamera Rede und Antwort zu stehen. Für das Publikum hat das einen besonderen Reiz: Was live passiert, kann nachher nicht geglättet, gekürzt oder uminterpre­tiert werden. Doch wenn keine Zeit zum Denken bleibt, kommt eben auch häufig ein bunter Strauß von Plattitüde­n heraus, wie ihn die Kanzlerin in dieser Woche auf den Tisch gestellt hat. Angela Merkel war stets das Gegenteil des aufgeregte­n Sofortismu­s. Schon länger wirkt sie damit aus der Zeit gefallen. Ob das nun wohltuend oder von gestern ist, soll jeder selbst beurteilen. Politiker von heute agieren jedenfalls in Echtzeit in sozialen Medien, zwischendu­rch ein Interview, der neue Podcast, die nächste Talkshow. Viel Sendezeit – wenig Tiefgang.

Noch eine Anekdote: Der thüringisc­he Ministerpr­äsident Bodo Ramelow ist ein Mann, zu dessen Stärken es nicht gehört, auch mal schweigen zu können. Eine Idealbeset­zung also für die neue Plattform „Clubhouse“, auf der sich Menschen in virtuellen Gesprächsr­äumen treffen und über alles Mögliche quatschen. Ramelow ist dort Dauergast der ersten Stunde, wird für seine Offenheit gefeiert – und angestache­lt, aus dem Nähkästche­n zu plaudern. Also erzählt er, dass er während der Corona-Krisensitz­ungen gerne mal zur Ablenkung auf dem Smartphone zockt, und nennt die Kanzlerin „das Merkelchen“.

Das war natürlich ziemlich dumm, aber auch wenig überrasche­nd: Wer rund um die Uhr sendet, versendet sich auch mal. Wer meint, auf alles eine Antwort geben zu können, muss eben öfter mal raten. Kann das wirklich unser Anspruch sein?

Wer glaubt, alles zu wissen, muss öfter mal raten

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