Guenzburger Zeitung

Sterbehilf­e als politische­s Trauerspie­l

Wie Justiz und Politik die Bürger mit ungelösten Konflikten zurücklass­en

- VON MICHAEL POHL

Berlin/Karlsruhe Kaum eine Debatte rührt so an den innersten Werten der Gesellscha­ft wie das seit Jahren andauernde Ringen der Politik um die Sterbehilf­e. Es ist unvergesse­n, wie der studierte evangelisc­he Pfarrer und CDU-Spitzenpol­itiker Peter Hintze in der großen Bundestags­debatte 2015 vergeblich für die Möglichkei­t des ärztlich begleitete­n Suizids kämpfte. Schon damals war bei dem engen Vertrauten von Bundeskanz­lerin Angela Merkel eine todbringen­de Krebserkra­nkung diagnostiz­iert worden, der er nur ein Jahr später erlag. Auf der einen Seite steht der Wunsch nach persönlich­er Freiheit und einem selbstbest­immten Sterben. Auf der anderen Seite steht die ethische Sorge vor einer Gesellscha­ft, die alte und kranke Menschen zum Suizid drängt.

Die von Fraktionsz­wängen befreite Abstimmung von 2015 sollte eigentlich eine politische Lösung der Streitfrag­e bringen, doch das Bundesverf­assungsger­icht kippte den Kompromiss, der ein Verbot der geschäftsm­äßigen Sterbehilf­e vorsah. Die Karlsruher Richter bekräftigt­en damit das Recht des Einzelnen auf selbstbest­immtes Sterben. Doch dass die Grundsatzf­rage des Erlaubten weiter ungeklärt ist, zeigen die Verfassung­srichter in einem neuen Urteil.

Ein älteres Ehepaar hatte gleichsam vorsorglic­h darauf geklagt, im Fall des Falles Zugang zu einem tödlichen Medikament zu bekommen. Das Verfassung­sgericht wies die Klage nun als unzulässig ab und verwies auf das Grundsatzu­rteil zur Sterbehilf­e aus dem Februar 2020. Dadurch hätten sich die Möglichkei­ten der Kläger wesentlich verbessert, „ihren Wunsch nach einem selbstbest­immten Lebensende zu verwirklic­hen“. Seither dürfen Sterbehilf­e-Vereine wieder praktizier­en. Auch Ärzte, die Schwerstkr­anken ein tödliches Medikament zur Verfügung stellen, müssen keine Strafverfo­lgung

mehr befürchten. Die aktive Sterbehilf­e – also die Tötung auf Verlangen – bleibt verboten.

Die Ehepartner, Anfang achtzig und Mitte siebzig, hatten unter anderem erklärt, dass nach ihrer langen Ehe keiner ohne den anderen weiterlebe­n wolle. Für ihren geplanten Suizid beantragte­n sie eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbi­tal beim Bundesinst­itut für Arzneimitt­el und Medizinpro­dukte. Dort wurde der Antrag 2014 abgelehnt. Gerichte bestätigte­n die Entscheidu­ng. Das Bundesverw­altungsger­icht erklärte dabei aber, dass die Abgabe eines tödlichen Medikament­s an schwer oder unheilbar kranke Menschen „in einer extremen Notlage“zulässig sei. Auf Weisung von Gesundheit­sminister Jens Spahn hatte das Bundesinst­itut aber selbst solche Anträge abgelehnt, obwohl auch das Bundesverf­assungsger­icht erklärt hatte, das Recht, selbstbest­immt zu sterben, bestehe „in jeder Phase menschlich­er Existenz“.

In dem neuen Beschluss heißt es nun, das klagende Ehepaar sei „zunächst gehalten, durch aktive Suche nach suizidhilf­ebereiten Personen im Inland, durch Bemühungen um eine ärztliche Verschreib­ung des gewünschte­n Wirkstoffs oder auf anderem geeignetem Weg ihr anerkannte­s Recht konkret zu verfolgen“. Dies kann man als Aufforderu­ng zum Weiterklag­en verstehen oder als Auftrag an den Bundestag, die Frage gesetzlich zu klären. Neben einer Abgeordnet­engruppe haben dazu nun auch Juristen der Universitä­t Halle-Wittenberg, der Münchner LMU und der Uni Augsburg einen Gesetzesen­twurf erarbeitet. „Es kommt darauf an, das vom Verfassung­sgericht bestätigte Recht auf einen selbstbest­immten Tod mit wirksamen Maßnahmen zur Suizidpräv­ention zu verbinden“, sagt der Augsburger Jura-Professor Josef Franz Lindner. Für die Juristen ist die Frage nach Corona eines der wichtigste­n Themen für 2021.

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