SaudiArabien plant Megastadt
Der Wüstenstaat will entlang einer 170 Kilometer langen Linie am Roten Meer Wohnraum schaffen. Kritiker sehen in „The Line“jedoch nur ein Videospiel und halten das gewagte Projekt für Geldverschwendung
Istanbul Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman plant ein neues Megaprojekt, mit dem er als Visionär in die Geschichtsbücher eingehen will. Als Stadt der Zukunft preist der Thronfolger und defacto-Herrscher Saudi-Arabiens die Siedlung „The Line“an, die ab März am saudischen Ufer des Roten Meeres entstehen soll. Entlang einer 170 Kilometer langen Linie sollen dort eine Million Menschen leben, die trotz der riesigen Ausmaße der Retortenstadt alles, was sie für das tägliche Leben brauchen, innerhalb von fünf Minuten zu Fuß erreichen können. Die komplette Infrastruktur wie Verkehr und Stromleitungen wird unter die Erde verlegt: „The Line“kennt keine Straßen und keine Autos.
Kritiker werfen dem saudischen Prinzen Größenwahn vor. Der Thronfolger wolle seinen Ruf als brutaler Autokrat aufpolieren und dafür Milliardensummen verplempern. „The Line“wird nach saudischen Angaben bis zu 200 Milliarden Dollar (rund 167 Milliarden Euro) kosten. Die Stadt ist der erste Teil des Zukunftsprojekts „Neom“, das am Roten Meer gebaut werden und Städte, Häfen, Forschungseinrichtungen und Hightech-Firmen mit modernem, CO2-freiem Leben verbinden soll. Anders als im Rest Saudi-Arabiens soll in „Neom“der Alkoholkonsum erlaubt sein; Frauen müssen sich nicht verschleiern.
Insgesamt veranschlagt Mohammed bin Salman, genannt MBS, rund 500 Milliarden Dollar für „Neom“. Das Vorhaben steht für den Plan des 35-jährigen Kronprinzen, die Monarchie in eine Zukunft nach der Öl-Ära zu führen. Der Umstieg rechnet sich, sagt die saudische Regierung: Schon in zehn Jahren soll „The Line“fast 50 Milliarden Dollar für den Staatshaushalt generieren. „Null Autos, null Straßen, null CO2-Emissionen“, versprach MBS bei der Vorstellung von „The Line“im saudischen Fernsehen. Nicht der Verkehr stehe im Mittelpunkt der Stadtplanung, sondern der Mensch. Lange Fahrten zur Arbeit sollen ebenso der Vergangenheit angehören wie Luftverschmutzung und Verkehrsunfälle. In Röhren unter der Stadt sollen selbstfahrende Autos und eine superschnelle U-Bahn bereitstehen, womit die Bewohner in maximal 20 Minuten von einem Ende der Stadt „The Line“zum anderen fahren können. Der Bau der Megastadt soll 95 Prozent der Natur im Gebiet entlang der Linie unangetastet lassen.
Das Konzept von „The Line“stützt sich auf den stadtplanerischen Trend der „15-Minuten-Stadt“, der Großstädte lebenswerter machen soll. So will Paris zur 15-MinutenStadt werden. Ähnliche Projekte gibt es in Melbourne und New York. „The Line“geht noch weiter. Höchstens fünf Minuten sollen die Bewohner zu Schulen, Restaurants, Parks oder Supermärkten gehen müssen. Sie leben entlang der Linie in mehreren Siedlungen, die durch den unterirdischen Verkehrsstrang verbunden werden.
In der schönen neuen Welt von MBS, wie sie in einer Computersimulation angepriesen wird, soll Künstliche Intelligenz eine große Rolle spielen. Nicht weniger als eine „Revolution des urbanen Lebens“verspricht das Projekt: „Ein Zuhause für uns alle.“
Das sehen die Mitglieder des Stammes der Huwaitat anders. „Neom wird auf unseren Knochen und unserem Blut gebaut“, sagte ein Vertreter des Stammes dem britischen „Guardian“. Mindestens 20000 Menschen werden demnach aus der Gegend im Nordwesten Saudi-Arabiens vertrieben, um Platz für „Neom“und „The Line“zu machen. Aktivisten warnen westliche Firmen davor, Geld in „The Line“ und damit in ein „archaisches und autoritäres Regime“zu stecken, wie Bethany Alhaidari, Mitgründerin der Menschenrechtsorganisation SAJP, auf Twitter schrieb. „Ich rate Investoren sehr, sich fernzuhalten.“
Das Reformprogramm von MBS sieht zwar eine wirtschaftliche Neuorientierung Saudi-Arabiens, aber nicht mehr Rechte für die Bürger vor. Viele Aktivisten sitzen im Gefängnis. Seitdem der Kronprinz im Jahr 2018 den regimekritischen Journalisten Jamal Khashoggi ermorden ließ, hat er im Westen den Ruf eines brutalen Autokraten. „Neom“ist bei Anlegern bisher auf wenig Interesse gestoßen.
Mit „The Line“will MBS jetzt wieder in die Offensive gehen, doch Kritiker bezweifeln, dass er auf dem richtigen Weg ist. Dem Kronprinzen gehe es vor allem um seinen eigenen Ruhm, kommentierte der Menschenrechtler Walid al-Hathloul auf Twitter. Hathloul, ein Bruder der inhaftierten saudischen Frauenrechtlerin Loujain al-Hathloul, hält nicht nur die Pläne für die Linien-Stadt für Unsinn, sondern das ganze „Neom“-Projekt mit seinen geplanten fliegenden Taxis und Robotern für den Haushalt: MBS betreibe Stadtplanung „wie ein Videospiel“.