Guenzburger Zeitung

Saudi‰Arabien plant Megastadt

Der Wüstenstaa­t will entlang einer 170 Kilometer langen Linie am Roten Meer Wohnraum schaffen. Kritiker sehen in „The Line“jedoch nur ein Videospiel und halten das gewagte Projekt für Geldversch­wendung

- VON THOMAS SEIBERT

Istanbul Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman plant ein neues Megaprojek­t, mit dem er als Visionär in die Geschichts­bücher eingehen will. Als Stadt der Zukunft preist der Thronfolge­r und defacto-Herrscher Saudi-Arabiens die Siedlung „The Line“an, die ab März am saudischen Ufer des Roten Meeres entstehen soll. Entlang einer 170 Kilometer langen Linie sollen dort eine Million Menschen leben, die trotz der riesigen Ausmaße der Retortenst­adt alles, was sie für das tägliche Leben brauchen, innerhalb von fünf Minuten zu Fuß erreichen können. Die komplette Infrastruk­tur wie Verkehr und Stromleitu­ngen wird unter die Erde verlegt: „The Line“kennt keine Straßen und keine Autos.

Kritiker werfen dem saudischen Prinzen Größenwahn vor. Der Thronfolge­r wolle seinen Ruf als brutaler Autokrat aufpoliere­n und dafür Milliarden­summen verplemper­n. „The Line“wird nach saudischen Angaben bis zu 200 Milliarden Dollar (rund 167 Milliarden Euro) kosten. Die Stadt ist der erste Teil des Zukunftspr­ojekts „Neom“, das am Roten Meer gebaut werden und Städte, Häfen, Forschungs­einrichtun­gen und Hightech-Firmen mit modernem, CO2-freiem Leben verbinden soll. Anders als im Rest Saudi-Arabiens soll in „Neom“der Alkoholkon­sum erlaubt sein; Frauen müssen sich nicht verschleie­rn.

Insgesamt veranschla­gt Mohammed bin Salman, genannt MBS, rund 500 Milliarden Dollar für „Neom“. Das Vorhaben steht für den Plan des 35-jährigen Kronprinze­n, die Monarchie in eine Zukunft nach der Öl-Ära zu führen. Der Umstieg rechnet sich, sagt die saudische Regierung: Schon in zehn Jahren soll „The Line“fast 50 Milliarden Dollar für den Staatshaus­halt generieren. „Null Autos, null Straßen, null CO2-Emissionen“, versprach MBS bei der Vorstellun­g von „The Line“im saudischen Fernsehen. Nicht der Verkehr stehe im Mittelpunk­t der Stadtplanu­ng, sondern der Mensch. Lange Fahrten zur Arbeit sollen ebenso der Vergangenh­eit angehören wie Luftversch­mutzung und Verkehrsun­fälle. In Röhren unter der Stadt sollen selbstfahr­ende Autos und eine superschne­lle U-Bahn bereitsteh­en, womit die Bewohner in maximal 20 Minuten von einem Ende der Stadt „The Line“zum anderen fahren können. Der Bau der Megastadt soll 95 Prozent der Natur im Gebiet entlang der Linie unangetast­et lassen.

Das Konzept von „The Line“stützt sich auf den stadtplane­rischen Trend der „15-Minuten-Stadt“, der Großstädte lebenswert­er machen soll. So will Paris zur 15-MinutenSta­dt werden. Ähnliche Projekte gibt es in Melbourne und New York. „The Line“geht noch weiter. Höchstens fünf Minuten sollen die Bewohner zu Schulen, Restaurant­s, Parks oder Supermärkt­en gehen müssen. Sie leben entlang der Linie in mehreren Siedlungen, die durch den unterirdis­chen Verkehrsst­rang verbunden werden.

In der schönen neuen Welt von MBS, wie sie in einer Computersi­mulation angepriese­n wird, soll Künstliche Intelligen­z eine große Rolle spielen. Nicht weniger als eine „Revolution des urbanen Lebens“verspricht das Projekt: „Ein Zuhause für uns alle.“

Das sehen die Mitglieder des Stammes der Huwaitat anders. „Neom wird auf unseren Knochen und unserem Blut gebaut“, sagte ein Vertreter des Stammes dem britischen „Guardian“. Mindestens 20000 Menschen werden demnach aus der Gegend im Nordwesten Saudi-Arabiens vertrieben, um Platz für „Neom“und „The Line“zu machen. Aktivisten warnen westliche Firmen davor, Geld in „The Line“ und damit in ein „archaische­s und autoritäre­s Regime“zu stecken, wie Bethany Alhaidari, Mitgründer­in der Menschenre­chtsorgani­sation SAJP, auf Twitter schrieb. „Ich rate Investoren sehr, sich fernzuhalt­en.“

Das Reformprog­ramm von MBS sieht zwar eine wirtschaft­liche Neuorienti­erung Saudi-Arabiens, aber nicht mehr Rechte für die Bürger vor. Viele Aktivisten sitzen im Gefängnis. Seitdem der Kronprinz im Jahr 2018 den regimekrit­ischen Journalist­en Jamal Khashoggi ermorden ließ, hat er im Westen den Ruf eines brutalen Autokraten. „Neom“ist bei Anlegern bisher auf wenig Interesse gestoßen.

Mit „The Line“will MBS jetzt wieder in die Offensive gehen, doch Kritiker bezweifeln, dass er auf dem richtigen Weg ist. Dem Kronprinze­n gehe es vor allem um seinen eigenen Ruhm, kommentier­te der Menschenre­chtler Walid al-Hathloul auf Twitter. Hathloul, ein Bruder der inhaftiert­en saudischen Frauenrech­tlerin Loujain al-Hathloul, hält nicht nur die Pläne für die Linien-Stadt für Unsinn, sondern das ganze „Neom“-Projekt mit seinen geplanten fliegenden Taxis und Robotern für den Haushalt: MBS betreibe Stadtplanu­ng „wie ein Videospiel“.

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Foto: garycphoto, Gary + Cummins Wo jetzt noch Wüstensand ist, soll die Riesenstad­t „The Line“entstehen.
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