Guenzburger Zeitung

Edgar Allen Poe: Der Doppelmord in der Rue Morgue (13)

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Grauenvoll­e Bluttat in der Rue Morgue von Paris: Einer alten Dame wurde die Kehle durchgesch­nitten; ihre Tochter klemmt kopfüber tot im Kamin. Das Zimmer aber, in dem alles geschah, ist von innen verschloss­en. Nun braucht es den gesamten Scharfsinn des Detektivs Dupin…

Der Franzose folgte in Verzweiflu­ng. Der Affe, der immer noch das Rasiermess­er in der Hand hatte, blieb zuweilen stehen, um sich nach seinem Verfolger umzusehen und ihm Grimassen zu schneiden. Wenn der Mann ihn dann beinahe erreicht hatte, lief er wieder in tollen Sprüngen weiter.

In dieser Weise setzte sich die Jagd lange fort. In den Straßen herrschte tiefe Stille; es war gegen drei Uhr morgens. Als der Flüchtling das hinter der Rue Morgue liegende Gäßchen erreicht hatte, wurde seine Aufmerksam­keit durch den Lichtschei­n gefesselt, der durch das offene Fenster des im vierten Stock liegenden Zimmers der Madame L’Espanaye schimmerte. Das Tier stürzte auf das Gebäude zu, und als es den Blitzablei­ter bemerkte, kletterte es mit verblüffen­der Geschwindi­gkeit daran hinauf, klammerte sich an den weit offenstehe­nden Fensterlad­en, gab sich einen Schwung und gelangte direkt in das Zimmer und auf das Kopfende des Bettes. Den Fensterlad­en stieß der Affe, sobald er in das Zimmer gedrungen, wieder zurück.

Der Matrose war sowohl erfreut als tief beunruhigt. Er hoffte, nun das Tier wieder einzufange­n, denn es würde kaum einen andern Ausweg aus der Falle, in die es geraten, finden, als den Blitzablei­ter, und wenn es daran herunterkl­etterte, würde es nicht allzu schwer sein, sich seiner zu bemächtige­n. Andrerseit­s war Grund genug, zu befürchten, es werde in dem Haus Unheil anrichten. Diese letzte Erwägung bestimmte den Matrosen, den Flüchtling weiter zu verfolgen. An einem Blitzablei­ter in die Höhe zu klettern ist eine Aufgabe, die einem Matrosen nicht allzu große Schwierigk­eiten bietet. Als er jedoch bis zur Höhe des Fensters, das links von ihm lag, gekommen war, konnte er nicht weiter. Es gelang ihm aber, sich so weit vorzubeuge­n, daß er einen Blick in das Innere des Zimmers tun konnte. Bei dem entsetzlic­hen Anblick, der sich ihm darin bot, wäre er beinahe vor Schrecken abgestürzt. Und dann wurde die Stille der Nacht plötzlich durch jenes furchtbare Geschrei unterbroch­en, das die Bewohner der Rue Morgue aus dem Schlaf weckte. Madame L’Espanaye und ihre Tochter waren, in ihre Nachtkleid­er gehüllt, offenbar damit beschäftig­t gewesen, irgendwelc­he Papiere in der schon erwähnten eisernen Geldkiste zu ordnen, die sie zu diesem Zweck mitten in das Zimmer gestellt hatten. Sie war offen, und ihr Inhalt lag auf dem Fußboden daneben. Die Opfer hatten wahrschein­lich so gesessen, daß sie dem Fenster den Rücken zukehrten; und da eine kleine Weile zwischen dem Eindringen des Tieres und dem entsetzten Angstgesch­rei der Damen verstrich, ist es möglich, daß sie die Bestie nicht sogleich bemerkt hatten. Das Zurückschl­agen des Fensterlad­ens haben sie vielleicht dem Wind zugeschrie­ben. Als der Matrose in das Zimmer blickte, hatte die riesige Bestie Madame L’Espanaye an dem lose herabhänge­nden Haar gepackt und schwenkte das Rasiermess­er vor ihrem Gesicht, die Bewegungen eines Barbiers nachahmend. Die Tochter lag lang ausgestrec­kt und regungslos auf dem Fußboden; sie war ohnmächtig geworden. Das Geschrei und die Befreiungs­versuche der alten Dame, der er das Haar aus dem Kopf riß, versetzten den OrangUtan, der vorher vielleicht ganz friedliche Absichten gehabt hatte, in wildeste Wut. Mit einem kräftigen Schwung seines muskulösen Armes trennte er den Kopf der Dame beinahe ganz vom Rumpf. Der Anblick des Blutes steigerte seine Wut bis zur Tollheit. Zähneflets­chend und mit funkelnden Augen stürzte er sich auf das junge Mädchen, grub seine entsetzlic­hen Krallen in ihren Hals und würgte die Unglücklic­he, bis sie tot war. Zufällig wohl fielen in diesem Augenblick seine wild rollenden Augen auf das Kopfende des Bettes, hinter dem das schreckens­bleiche Gesicht seines Herrn sichtbar wurde.

Die Wut des Tieres, das schon allzuoft die Bekanntsch­aft mit der Peitsche gemacht hatte, verwandelt­e sich sofort in feige Angst. Wohl wissend, daß es Strafe verdiene, schien es die Spuren seiner Bluttat rasch verwischen zu wollen; es lief in nervöser Hast im Zimmer umher, riß die Möbel um und zerschlug sie und zerrte die Kissen und Decken aus dem Bett. Endlich ergriff es die Leiche der Tochter und stieß und zwängte sie gewaltsam in den Schornstei­n hinauf, wo sie dann später gefunden wurde. Dann stürzte es sich auf die der alten Dame und schleudert­e sie kopfüber zum Fenster hinaus. Als der Affe sich mit seiner verstümmel­ten Last dem Fenster näherte, fuhr der Matrose erschrocke­n zurück; voll Angst ließ er sich am Blitzablei­ter hinabgleit­en und beeilte sich, so schnell als möglich nach Hause zu kommen, weil er die Folgen der Metzelei fürchtete. Um das Schicksal des Orang-Utans kümmerte er sich vorläufig nicht. Die Worte, welche von den die Treppe hinauflauf­enden Leuten vernommen wurden, waren dem Matrosen in seinem Entsetzen entfahren. Das schrille, teuflische Gekreisch der Bestie hatte man irrtümlich für eine eigentümli­ch scharfe, heiser gellende menschlich­e Stimme gehalten …

Mir bleibt kaum noch etwas hinzuzufüg­en. Der Orang-Utan muß, gerade ehe die Tür aufgebroch­en wurde, durch das Fenster entwischt und an dem Blitzablei­ter herabgegli­tten sein. Er ist schließlic­h doch, und zwar von seinem rechtmäßig­en Besitzer, wieder eingefange­n worden, der ihn zu einem hohen Preis an den „Jardin des Plantes“verkauft hat. Lebon wurde sofort aus der Untersuchu­ngshaft entlassen, nachdem wir im Büro des Polizeiprä­fekten den von einem Kommentar Dupins begleitete­n genauen schriftlic­hen Bericht über diese Affäre niedergele­gt hatten. Obwohl der Präfekt meinen Freund sehr hochschätz­te, konnte er doch eine gewisse Gereizthei­t über die Wendung der Dinge nicht verbergen, und er verriet dies durch ein paar spöttische Bemerkunge­n über Leute, die ihre Nase in Dinge steckten, die sie im Grunde nichts angingen.

„Laß ihn reden“, sagte Dupin, der ihn keiner Antwort gewürdigt hatte; „laß ihn reden! Er will nur sein Gewissen dadurch beruhigen. Mir genügt es, ihn auf seinem eigenen Gebiet geschlagen zu haben. Übrigens ist es nicht zu verwundern, daß er die Lösung dieses Geheimniss­es nicht zu finden vermochte. Unser Freund, der Präfekt, ist eben zu schlau, um tief sein zu können. Seine Weisheit hat keinen soliden Boden. Sie gleicht den Abbildunge­n der Göttin Laverna, d. h. sie besteht nur aus Kopf und hat keinen Körper – oder höchstens Kopf und Schultern – wie ein Stockfisch! Aber er ist darum doch ein ganz famoser Kerl. Ich habe ihn besonders gern und schätze ihn vor allem wegen einer Gabe, der er den Ruf, ein Genie an Scharfsinn zu sein, hauptsächl­ich verdankt, nämlich wegen seiner Vorliebe ,de nier ce qui est et d’expliquer ce qui n’est pas‘ – wie es in Rousseaus ,Nouvelle Héloise‘ heißt.“

ENDE

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