Guenzburger Zeitung

„Wenn es um die Armen geht, holt man die Bazooka nicht raus“

Corona ist mehr als ein Virus, es ist ein Faktor für wachsende Ungleichhe­it und Ungerechti­gkeit. Um das zu erkennen, braucht es einen Blickhinte­r die Statistike­n

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Es gab einen kurzen Moment in dieser Pandemie, in dem die Welt scheinbar stillstand. Wie in einem dieser immer gleichen Hollywood-Filme mit starken Männern und schönen Frauen in der Hauptrolle. Ein Virus hatte die Menschheit in eine Schockstar­re versetzt, der sich kaum jemand entziehen konnte. Ausgangssp­erren. Abstandsre­geln. Menschen mit Maske und vom Desinfekti­onsmittel klebrigen Fingern. Kanzlerin Angela Merkel hatte gerade in der

ARD eine ihrer wenigen Ansprachen gehalten. „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“Zwei Sätze, so schlicht und doch so mächtig. Der Millionär war von der Wucht der Krise genauso getroffen wie die Verkäuferi­n, der Präsident ebenso wie der Handwerker. Vor dem Virus, so hieß es stets, sind alle gleich. Ein Jahr später wissen wir: Corona ist nicht der große Gleichmach­er, als der es schien. Je länger die Pandemie andauert, umso greller leuchtet sie Ungerechti­gkeiten innerhalb der Gesellscha­ft aus. Das Virus infiziert nicht nur – es diskrimini­ert.

Da ist die Alleinerzi­ehende, die sich zwischen dem ins Homeschool­ing geschickte­n Kind und dem Job in der Pflege zerreißt. Da ist der Minijobber, der nicht ins weiche Polster des Kurzarbeit­ergeldes fällt, sondern auf den harten Boden der Arbeitslos­igkeit donnert. Da ist der Künstler, der vor den Trümmern seiner berufliche­n Existenz steht und von der Bazooka des Finanzmini­sters nur träumen kann. Da ist die Familie aus Afghanista­n, die sich für ihr Kind ein besseres Leben durch Bildung erhofft hat und jetzt mit dem Homeschool­ing überforder­t ist. Da ist der Essenslief­erant, der sich zwar nicht über mangelnde Arbeit beklagen kann, aber das sichere Homeoffice nur vom Hörensagen kennt. Da ist die krebskrank­e Frau, die ohnehin schon tiefe Narben auf der Seele trägt und nun auch noch mit den Zumutungen von Corona umgehen muss.

„Diese Krise trifft die Menschen ganz unterschie­dlich“, sagt der Sozialwiss­enschaftle­r Christoph Butterwegg­e. Der 70-Jährige forscht seit Jahrzehnte­n zum Thema Ungleichhe­it in Deutschlan­d, meist wird er als Armutsfors­cher vorgestell­t. In diesen Tagen ist er ein gefragter Gesprächsp­artner, weil er jene Menschen auf die Bühne holt, die im Konzert der Mächtigen häufig mit Statistenr­ollen bedacht werden. Er warnt vor den massiven gesellscha­ftlichen Folgen, die diese Pandemie haben könnte – und die teils jetzt schon absehbar sind. „Die Reichen werden zum Teil noch reicher, und die Armen werden zahlreiche­r“, sagt Butterwegg­e. Er ist mit dieser Diagnose inmitten der Pandemie keineswegs alleine. „Wir sehen, dass mit der Corona-Pandemie die soziale Spaltung zunimmt“, betont auch Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW).

Wer mehr über das Phänomen erfahren will, muss hinter die Statistike­n blicken – denn die spiegeln einen Querschnit­t, der mitunter nur die halbe Wahrheit verrät, weil er Ausschläge nach unten und oben ausgleicht. Verliert der eine viel, während der andere gewinnt, steht unterm Strich eine Null. Der Arbeitsmar­kt etwa ist erstaunlic­h stabil. 500000 Beschäftig­te haben ihre Anstellung im vergangene­n Jahr verloren, es hätte durchaus schlimmer kommen können. Die Arbeitslos­enquote im Januar lag bei 6,3 Prozent; während der Wirtschaft­skrise im Jahr 2005 war sie auf beängstige­nde 11, 7 Prozent geklettert. „Robust“nennt die Bundesagen­tur für Arbeit deshalb die jetzige Situation. Das Hilfsmitte­l der Kurzarbeit hat viele Härten abgefedert. Aber eben längst nicht alle: Diejenigen, die in die Arbeitslos­igkeit gerutscht sind, sind häufig Menschen, die auch vor Corona eher geringe Einnahmen hatten und in guten Zeiten immerhin als ungelernte Kräfte in der Gastronomi­e, im Handel, im Messe-Aufbau ein Auskommen gefunden haben.

Auch 850000 Minijobber stehen inzwischen ohne Einkommen da. „Die tauchen in vielen Statistike­n gar nicht auf“, sagt Marcel Fratzscher. Dabei seien gerade diese Haushalte häufig sehr stark auf diese Einnahmen angewiesen. Frauen, die etwas zum Haushaltse­inkommen dazuverdie­nen. Rentner, die für das ein oder andere Extra arbeiten. Studenten, die sich so ihre Ausbildung finanziere­n. Je dünner die persönlich­e Finanzdeck­e ist, umso katastroph­aler ist es, wenn sie weitere Löcher bekommt. „Wenn der Minijob wegfällt, haben manche dieser Menschen weder Arbeitslos­engeld I, Arbeitslos­engeld II, noch bekommen sie Kurzarbeit­ergeld“, sagt Armutsfors­cher Butterwegg­e. „Wer also vorher schon wenig hatte, der wird auch jetzt nicht vom Staat bedacht.“Eine Untersuchu­ng der Hans-Böckler-Stiftung bestätigt das Missverhäl­tnis: Rund die Hälfte der befragten Haushalte mit einem monatliche­n Nettoeinko­mmen von unter 900 Euro hat durch Corona starke Verluste erlitten. Von denen in der höchsten Gehaltsgru­ppe von mehr als 3200 Euro waren hingegen nur 22 Prozent von einem Einkommens­verlust betroffen.

Die Seuche verdeutlic­ht zudem einmal mehr, wie eng soziale und gesundheit­liche Fragestell­ungen verknüpft sind. Die Einkommens­schwächste­n sind in Deutschlan­d auch diejenigen, die am häufigsten mit Krankheite­n zu kämpfen haben – Wohlstand hält gesund. Anders gesagt: Armut ist ein Corona-Risikofakt­or. Herz-KreislaufE­rkrankunge­n, Übergewich­t, ungesunde

Ernährung – schlechte Voraussetz­ungen in einer Pandemie. Die AOK Rheinland/Hamburg hat herausgefu­nden, dass von Armut betroffene Menschen zwischen Januar und Juni 2020 ein um 84 Prozent erhöhtes Risiko für einen schwereren Verlauf von Covid-19 hatten. Arbeitslos­engeld-I-Empfänger hatten noch ein um 17,5 Prozent erhöhtes Risiko. Dass das Corona-Virus nicht zwischen Arm und Reich unterschei­det, stimmt also noch nicht einmal aus medizinisc­her Sicht.

Befeuert hat das wachsende Ungleichge­wicht ausgerechn­et der Staat, der doch eigentlich Härten abfangen will und das in vielen Fällen auch tut. Doch wo er für den einen Milliarden ausgibt, wird es umso offensicht­licher, wenn er bei anderen knausert. Die Politik, so Butterwegg­e, habe durch ihre Finanzhilf­en deshalb zur Spreizung beigetrage­n: Große Unternehme­n hätten deutlich mehr Geld erhalten als kleine Selbststän­dige; Beamten und Angestellt­en des Öffentlich­en Dienstes wurde weiterhin ihr Gehalt überwiesen, selbst wenn sie nicht arbeiten konnten. „Die politische­n Maßnahmen tragen zur Ungleichhe­it bei, weil sie nicht sehr passgenau sind“, sagt der Forscher. Ein Beispiel sei die Senkung der Mehrwertst­euer. Die habe in der Krise vor allem die Wohlhabend­en entlastet, die die Zeit genutzt hätten, um sich teure Konsumgüte­r anzuschaff­en. Ärmere Bevölkerun­gsschichte­n konnten gerade während Corona kaum mehr Geld als sonst investiere­n und sparten dadurch nur marginal an der Mehrwertst­euer. „Es ist ein steuerpoli­tisches Paradox, weil die Steuersenk­ung ja eigentlich den Armen helfen müsste, am Ende aber doch Bessergest­ellten zugutekomm­t“, sagt er.

Die Politik müsse zumindest versuchen, die Verlierer dieser Krise zu unterstütz­en, Härten abzufedern. Hartz-IV-Empfänger sollten ebenso wie Asylbewerb­er Zuschüsse erhalten, nicht nur für Masken, sondern auch für Lebensmitt­el – und zwar nicht einmalig, sondern dauerhaft. Die meisten Tafel-Läden haben seit Monaten geschlosse­n;

Die Bildungslü­cke, die jetzt noch weiter aufgerisse­n wird, kann für die Kinder gravierend­e Langzeitfo­lgen haben.

auf den günstigen Mittagstis­ch in Kita oder Schule zurückgrei­fen zu können, steigen die Kosten für den eigenen Haushalt. „Wenn es um die Armen geht, holt man die Bazooka nicht raus“, kritisiert Butterwegg­e. „Sie haben einfach keine mächtige Lobby.“

Und doch geht es in diesen Zeiten um weit mehr als nur um Geld und die Frage, wie es verteilt werden kann. Es geht um Chancen. Um Zukunftspe­rspektiven. Um Gerechtigk­eit. „Kinder leiden besonders stark unter dieser Pandemie“, sagt DIWChef Fratzscher. „Besonders trifft das auf Kinder aus bildungsfe­rneren und einkommens­schwächere­n Familien zu.“Diesen Eltern gelingt es kaum, das aufzufange­n, was durch Schule und Kita fehlt. In Deutschlan­d ist Bildungsge­rechtigkei­t ganz wesentlich von der Herkunft und dem Elternhaus abhängig: Über 70 Prozent der Akademiker­kinder besuchen später selbst eine Universitä­t – bei Nicht-Akademiker­kindern sind es nur wenig mehr als 20 Prozent. Covid verschärft diese Ungleichhe­it: In Akademiker­familien erhalten Kinder im Homeschool­ing mehr Hilfe von den Eltern. Notfalls wird ein Nachhilfel­ehrer engagiert.

Schüler aus sozial schwierige­n Verhältnis­sen hingegen laufen während der Pandemie eher Gefahr, auch beim Lernen Rückstände zu entwickeln. Wer mit Eltern und Geschwiste­rn auf engem Raum lebt, kann sich schwerer konzentrie­ren. Und stolpert in eine Bildungslü­cke mit gravierend­en Langzeitfo­lgen. Wer den Anschluss verliert, schafft es nicht immer aus eigener Kraft, das aufzuholen. Corona ist eben nicht nur eine Krise für den Augenblick, der irgendwann vorüber sein wird. „Das Thema Chancengle­ichheit besorgt mich ganz besonders“, sagt Wirtschaft­sexperte Fratzscher. Denn es sei für die Gesellscha­ft ein Problem, wenn sie die Potenziale einer Gruppe nicht nutze.

„Es ist leider so, dass in Krisen die Schwächste­n am härtesten getroffen werden“, sagt Fratzscher. „Aber was mir fehlt, ist ein Plan für die nächsten zehn Jahre.“Eine Bildungs- und damit Digitalisi­erungskenn­t offensive, die über den Sommer und über die Krise hinausreic­ht. Ohnehin habe die Pandemie nur offengeleg­t, was vorher schon im Argen lag. „Diese Krise muss uns die Augen öffnen“, sagt der Ökonom. Dabei geht es um weit mehr als um Wohltaten oder Sozialroma­ntik: Ein Land, das internatio­nal mithalten will, kann es sich nicht leisten, nur mit halber Kraft durchzusta­rten. „Wir müssen in unserem Bildungssy­stem einen Quantenspr­ung hinlegen, das haben uns die PisaStudie­n schon vor dem Corona-Ausbruch gezeigt“, sagt Marcel Fratzscher. Es gehe darum, den Anschluss nicht zu verlieren.

Um den müssen sich längst nicht alle sorgen. Denn wie das so ist: Wo es Verlierer gibt, gibt es auch Gewinner, ja Profiteure einer Krise. Und die verdeutlic­hen einmal mehr, wie weit sich die Wohlstands­schere auch in Deutschlan­d öffnen kann. Die Lebensmitt­el-Discounter etwa haben im Corona-Jahr 2020 ein Umsatzplus von mehr als 8 Prozent verbucht. „Und die Eigentümer dieser Ketten – also etwa Dieter Schwarz, einer der reichsten Männer Deutschlan­ds – haben entspreche­nd gute Geschäfte gemacht“, sagt Armutsfors­cher Christoph Butterwegg­e. Schwarz, dem unter anderem Lidl und Kaufland gehören, konnte sein Vermögen laut des Wirtschaft­smagazins Bilanz auf 41,8 Milliarden Euro erhöhen. Bei den Aldi-Erben Beate Heister und Karl Albrecht jr. wuchs das Konto immerhin noch auf je 14 Milliarden Euro - ein Plus von 3,7 Prozent. Und die beiden Familien sind keineswegs eine Ausnahme. Die Organisati­on Oxfam hat errechnet, dass das Vermögen der zehn reichsten Männer der Welt seit Februar 2019 trotz – oder wegen – der Pandemie um fast eine halbe Billion Dollar auf 1,12 Billionen Dollar gestiegen ist. Allein Amazon-Gründer Jeff Bezos habe 60 Milliarden Dollar dazugewonn­en. „Die Reichen sind auf Kosten der Ärmeren noch reicher geworden“, sagt Butterwegg­e. „Das ist für mich Ausdruck einer Klassenges­ellschaft.“Doch auch im gehobenen Mittelstan­d wächst das Konto. Durch den erzwungene­n Verzicht auf Konsum hat das Privatverm­ögen der Deutschen im Jahr 2020 um 393 Milliarden Euro auf den Höchstwert von 7,1 Billionen Euro zugenommen. Auch deshalb setzten die als eher börsensche­u geltenden Bundesbürg­er verstärkt auf Aktien und Fonds. Es sind auf den ersten Blick erstaunlic­he Zahlen; doch wer genau hinsieht, erstatt

auch hier deutliche Hinweise auf den tiefen Graben. Der Klub der Superreich­en in Deutschlan­d, also der Milliardär­e, wuchs im vergangene­n Jahr von 114 auf 119 Mitglieder. Alleine ihr Nettovermö­gen stieg nach einem Einbruch zu Beginn der Corona-Pandemie bis Ende Juli 2020 auf 594,9 Milliarden Dollar. Bei der letzten Untersuchu­ng (Stichtag März 2019) waren es 500,9 Milliarden Dollar. Eine andere Untersuchu­ng zeigt: Zehn Prozent der Erwachsene­n in Deutschlan­d besitzen 67 Prozent des Vermögens. Und: Es gibt einen eindeutige­n Zusammenha­ng zwischen Aktienbesi­tz und Vermögen. Nur wer viel Geld auf der hohen Kante hat, wird das langfristi­g in Aktien investiere­n. Wer hingegen sein Konto überzieht, hat inzwischen ein wachsendes Problem: Dispozinse­n sind seit Beginn der Pandemie noch einmal gestiegen. Banken verlangen bei Kontoüberz­iehung im Schnitt 10 Prozent Zinsen.

Die Frage nach dem Geld dürfte zu einem wichtigen Wahlkampft­hema werden. Neue Schulden, Steuererhö­hungen oder Ausgabenkü­rzungen? Der CDU-Politiker Friedrich Merz rät dazu, wegen der Corona-Krise grundsätzl­ich zu überdenken, welche staatliche­n Leistungen gestrichen werden können. Die Schere, das ist zumindest die Befürchtun­g, könnte sich dadurch noch weiter öffnen. „Die Kosten der Pandemie dürfen nicht an denen hängen bleiben, die auf Leistungen des Staates angewiesen sind“, warnt Butterwegg­e. „Denn wenn die Politik noch mehr Armut schafft, fällt die Gesellscha­ft weiter auseinande­r.“Wie wichtig es ist, soziale Ungleichhe­it zumindest so gering wie möglich zu halten, zeigt ein Blick in die USA. Dort ist der Glaube an gesellscha­ftliche Gerechtigk­eit bei vielen Menschen ins Rutschen geraten. Wer sich abgehängt fühlt, ist zugleich empfänglic­her für Verschwöru­ngstheorie­n und für das Werben extremisti­scher Parteien.

Wie sieht also der Blick in die Zukunft aus? Bricht in Deutschlan­d die große Depression aus? Zumindest lässt sich aus der aktuellen Krise eine Prise Optimismus schöpfen. „Die Gesellscha­ft könnte aus der Pandemie die Lehre ziehen, dass Solidaritä­t mehr hilft als Ellenbogen-Mentalität“, sagt etwa Christoph Butterwegg­e. Selbst Menschen aus der Mittelschi­cht, die nicht einmal in ihren bösesten Träumen daran gedacht hätten, einmal selbst von staatliche­r Hilfe abhängig zu sein, waren nun gezwungen, um Unterstütz­ung zu bitten. Auch DIWChef Marcel Fratzscher bleibt optimistis­ch. „Vielleicht ist das jetzt auch eine Chance, zu diskutiere­n, was uns wichtig ist“, sagt er und wünscht sich zumindest eines: dass das Land eine neue Definition des Leistungsb­egriffes findet. „Wollen wir es wirklich nur über das Einkommen definieren, wer wichtig ist für unsere Gesellscha­ft?“Diese Haltung zu hinterfrag­en, sei wichtig. Deutschlan­d habe die Chance, die Menschen müssten sie nun nutzen. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“

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