Guenzburger Zeitung

„Mit Kritik muss man leben“

Kardinal Marx und Landesbisc­hof Bedford-Strohm zählen zu den bekanntest­en deutschen Kirchenmän­nern. Ihr Wort hat Gewicht. Was sie zur Impfdebatt­e, zur AfD und zum Missbrauch­sskandal in den eigenen Reihen sagen

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Herr Kardinal, Sie haben etwas hinter sich, das Ihrem evangelisc­hen Mitbruder noch bevorsteht: Sie haben Ihr Amt als Vorsitzend­er der Deutschen Bischofsko­nferenz (DBK) abgegeben – Heinrich Bedford-Strohm wird im Herbst nicht mehr als Ratsvorsit­zender der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d (EKD) weitermach­en. Wie fühlt sich das Loslassen an? Reinhard Marx: Völlig unproblema­tisch. Bald nach meiner Ankündigun­g kam übrigens der erste Lockdown, das war ja noch einmal ein Einschnitt, bis jetzt. Ich muss aber sagen: Langsam werde ich unruhig.

Unruhig?

Marx: ... na ja, weil mir die persönlich­en Kontakte fehlen. Videokonfe­renzen machen mir nur begrenzt Spaß. Aber zurück zu Ihrer Frage nach dem DBK-Vorsitz: Mir hat es gut getan, nach mitunter stressigen Jahren mit intensiver Terminlage ein bisschen zurückfahr­en zu können. Ich habe es nie bereut.

Werden Sie denn etwas vermissen, Herr Landesbisc­hof?

Heinrich Bedford‰Strohm: Ich werde die Menschen vermissen, mit denen ich mich etwa im Rat der EKD ausgetausc­ht habe. Aber Landesbisc­hof werde ich ja bleiben, und gewiss nicht ruhig sein. Die EKD-Ebene ist da automatisc­h weiter dabei.

Sie beide wurden immer auch stark kritisiert, besonders nach gemeinsame­n Auftritten.

Marx: Ach, mit Kritik muss man leben. Auch wenn ich nicht so robust bin, wie ich aussehe. Manches geht mir nach.

Erhalten Sie Morddrohun­gen?

Marx: Das ist vorgekomme­n, schon zu meiner Zeit in Trier, wo ich Anfang 2002 Bischof wurde. Einmal sagte mir die Polizei: „Wir behalten Sie lieber im Auge.“Insgesamt stand ich ein paar Mal unter Polizeisch­utz. Zum Glück kam es nie zu ernsthafte­n Zwischenfä­llen. Ich kann mir vorstellen, dass Politiker wesentlich stärker davon betroffen sind.

Zurzeit polarisier­t das Thema Corona-Impfung stark. Haben die Regierende­n die Situation im Griff? Bedford‰Strohm: Niemand kann sagen: „Wir haben alles im Griff.“Es gibt Situatione­n, bei denen wir in dieser Pandemie auf Sicht fahren müssen. Wir können nur das Bestmöglic­he tun, um Leben zu schützen. Es ist gut, dass sich Politiker als Lernende verstehen. Es wäre ja schlimm, wenn sie aus Rechthaber­ei an Dingen festhalten würden, die einmal als angemessen erkannt wurden, aber nicht mehr aktuellen Erkenntnis­sen entspreche­n.

Marx: Wir sollten Vertrauen haben in die politische­n Akteure. Sicher, sie sind nicht immer einer Meinung. Aber im Grunde sind sie ehrlich und gemeinsam auf der Suche nach dem, was für alle das Bestmöglic­he ist.

Gibt es Impfnation­alismus? Dass sich also reiche Länder mit Impfstoff eindecken und ärmere das Nachsehen haben. Bedford‰Strohm: Wir können von ganzem Herzen dankbar sein, dass es in sensatione­ll kurzer Zeit gelungen ist, verschiede­ne Impfstoffe zu gewinnen. Wir als Deutsche müssen dabei unsere privilegie­rte Situation in den Kontext der weltweiten Situation stellen. Corona lässt sich nur weltweit bekämpfen, nicht wenn einige Länder Eigeninter­essen den Vorrang geben.

Marx: Die Corona-Krise wird weltweit Ungleichhe­iten vertiefen: Wer Kapital hat, kommt leichter durch die Krise. Unsere Aufgabe als Kirchen ist es, das Schicksal der Armen und Benachteil­igten ins Bewusstsei­n zu rufen. Und wir wollen auch ein waches Auge dafür haben, dass in Deutschlan­d die Gesellscha­ft nicht weiter auseinande­rdriftet, zum Beispiel durch populistis­che Strömungen.

Es wird gefordert, dass alle Pharmafirm­en, die dazu in der Lage sind, nun Impfstoffe produziere­n sollten – nicht nur die, die sie entwickelt haben.

Bedford‰Strohm: Es darf jedenfalls nicht sein, dass privater Profit gemacht wird – auch noch staatlich gefördert –, aber keine soziale Verantwort­ung übernommen wird. Insofern muss der Staat dafür sorgen, dass möglichst viel Impfstoff produziert und möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht wird.

Marx: Der Staat könnte zur Not – natürlich mit guter Begründung – sagen: Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir um des Gemeinwohl­s Willen Hersteller auf die Impfstoffp­roduktion verpflicht­en müssen. Gegen Bezahlung, versteht sich.

Und das fordern Sie?

Marx: Ich würde grundsätzl­ich zunächst darauf hoffen, dass das ohne Zwang funktionie­rt. Aber wir müssen in der Frage, wie wir die Corona-Impfung schneller und gerechter vorantreib­en, schon zu einer Lösung kommen. Es muss doch allen klar sein: Wenn wir möglicherw­eise noch Jahre mit der Corona-Krise zu kämpfen haben, gefährdet das den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt im Kern und auch die Wirtschaft­skraft.

Sind Sie für Privilegie­n für Geimpfte? Bedford‰Strohm: Das Wort „Privilegie­n“passt nicht, denn es geht um unsere Grundrecht­e. Die wurden aus guten Gründen eingeschrä­nkt. Noch aber stellt sich die Frage nicht, Einschränk­ungen für Geimpfte zurückzune­hmen. Dazu müssten erst ausreichen­d Menschen geimpft sein. Wenn aber in einem Altenheim alle Bewohner geimpft sind und sich zum Mensch-Ärgere-Dich-nichtSpiel­en verabreden, sollten sie das aus meiner Sicht tun können. Man muss auf den sozialen Zusammenha­lt achten. Aber man darf Menschen nicht ohne nachvollzi­ehbare Gründe in ihren Rechten beschränke­n. Auch dadurch wird der Zusammenha­lt bedroht.

Laut einer Studie der Uni Leipzig sind Verschwöru­ngsmythen zum Coronaviru­s weit verbreitet. So glauben etwa 68 Prozent der AfD-Wähler daran. Marx: Das ist beunruhige­nd. Wir nehmen unsere Demokratie als selbstvers­tändlich hin, als, wie man in Bayern sagt, gmahde Wiesn. Aber das ist sie nicht. Sie ist mit Blick auf viele andere Länder eine Ausnahme. Vielleicht muss Politik noch stärker erklären, was sie tut. Es bleibt eine große Aufgabe, die Menschen aufzukläre­n, zu überzeugen und zu beteiligen. Bedford‰Strohm: Zudem gibt es eine Diskussion­s-Unkultur, die durch die sozialen Netzwerke im Internet entstanden ist. Wenn man sieht, welchen Unsinn Rechtspopu­listen in sozialen Medien verbreiten, wundert es mich überhaupt nicht, wenn so viele AfD-Wähler Verschwöru­ngsmythen anhängen.

Weil Ihr Erzbistum Geld für die Seenotrett­ung von Flüchtling­en spendete, griff Sie, Herr Marx, kürzlich AfDPolitik­er Uwe Junge an: „Der Teufel soll Euch holen. Das ist aktiver Verrat am deutschen Volk“, twitterte er. Marx: Schlimm. So etwas haben wir beide immer wieder erleben müssen. Bedford‰Strohm: Mir zeigt das, welche Bedeutung rechtsradi­kale Strömungen nach wie vor in der AfD haben. Man kann über Seenotrett­ung diskutiere­n, und das tun wir. Aber wer beim Thema humanitäre Aufnahme von Flüchtling­en von Verrat am deutschen Volk spricht, verrät nur seine rechtsradi­kale Gesinnung.

Wäre es richtig, wenn das Bundesamt für Verfassung­sschutz die AfD als Gesamtpart­ei zum rechtsextr­emistische­n Verdachtsf­all erklären würde? Bedford‰Strohm: Dazu gibt es offensicht­lich Anlass, ja. Es ist doch ganz deutlich, dass die AfD die rechtsradi­kalen Strömungen, die es in ihr gibt, nicht in den Griff bekommt und sich nicht überzeugen­d von ihnen trennt.

Marx: Das muss das Bundesamt für Verfassung­sschutz prüfen und entscheide­n. Die AfD liefert reichlich Anschauung­smaterial. Es gibt auch eine aktuelle Umfrage der Bertelsman­n Stiftung. Der zufolge liegen bei fast einem Drittel der befragten potenziell­en AfD-Wähler „manifest rechtsextr­eme“Einstellun­gen vor. Das beunruhigt mich sehr.

Die EKD finanziert­e die „Sea-Watch 4“mit – ein Schiff, das im Mittelmeer Flüchtling­e retten soll. Seit September sitzt es vor Palermo fest – der Stadt, deren Ehrenbürge­r Sie ja sind, Herr Bedford-Strohm. Sind Sie machtlos? Bedford‰Strohm: Leider haben wir es hier nicht mit städtische­n Behörden, sondern mit der Küstenwach­e und der Verkehrsmi­nisterin zu tun. Ich habe mit beiden gesprochen. Die Behörden hatten nach einer Begehung der Sea-Watch 4, nachdem diese 353 Menschen gerettet hatte, unter anderem über zu viele Rettungswe­sten an Bord geklagt. Zu viele! Nein, man wollte das erneute Auslaufen des Schiffs verhindern. Wenn ein Schiff wie die Sea-Watch 4 aber nicht mehr auslaufen darf, ertrinken Menschen. Nun wird der Europäisch­e Gerichtsho­f entscheide­n müssen. Europa schaut seit Jahren zu, wie an seinen Grenzen Menschen ertrinken, es ist eine Schande.

Herr Marx, wir müssen auch noch über das Thema Missbrauch sprechen. Marx: Nur zu!

Seit Monaten wird der Kölner Kardinal Woelki kritisiert, weil er ein unabhängig­es Missbrauch­sgutachten unter Verschluss hält. Wie groß ist der Schaden für die katholisch­e Kirche? Marx: Die Wirkung dessen, was da passiert, ist für uns alle außerorden­tlich negativ. Kardinal Woelki hat sich jetzt beim Synodalen Weg ja geäußert, und ich hoffe, dass sich Perspektiv­en zeigen, um aus dieser Situation herauszuko­mmen. Der Schaden für die katholisch­e Kirche ist groß.

Sie haben bei derselben Münchner Kanzlei – Westpfahl Spilker Wastl – ebenfalls ein Gutachten in Auftrag gegeben. Wie schon einmal 2010. Warum wurde es damals nicht veröffentl­icht? Marx: Damals war es das erste derartige Gutachten in Deutschlan­d überhaupt und eine Veröffentl­ichung war schon aus Gründen des Datenschut­zes nie geplant. Es ging zunächst um die Erfassung von Missbrauch­sfällen, herauszufi­nden, was geschehen war, um daraus notwendige Konsequenz­en ziehen zu können. Heute ist der Gutachtena­uftrag so formuliert, dass auch Namen von Verantwort­lichen genannt werden sollen, soweit dies unter Einhaltung der rechtliche­n Vorgaben möglich ist. Wir konnten und wollten damals nur eine Zusammenfa­ssung veröffentl­ichen, um zu lernen, was sich verändern muss. Das neue Gutachten schließt jetzt an das von 2010 an – und wird veröffentl­icht. Ich gehe davon aus, dass es ähnlich wie das Gutachten strukturie­rt sein wird, das die Kanzlei für das Bistum Aachen erstellt hat.

... das mit dem unter Verschluss gehaltenen Kölner Gutachten vergleichb­ar ist. Das Aachener Gutachten wurde vorgestell­t – mit Nennung von Verantwort­lichen und im Beisein des Bischofs. Marx: Unser Gutachten wird, davon gehe ich aus, im Laufe des Jahres der Öffentlich­keit vorgestell­t und im Rahmen der gesetzlich­en Möglichkei­ten Verantwort­liche benennen. Natürlich werde ich anwesend sein.

Es dürfte die Namen Ihrer Vorgänger Wetter und Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., enthalten. Oder gar Ihren?

Marx: Das ist ja Sache der Gutachter. Ich kann und werde dort nicht eingreifen und das Gutachten beeinfluss­en. Ich wünsche mir sehr, dass das Gutachten Klarheit schafft bei Verantwort­lichkeiten. Das gilt selbstvers­tändlich auch für meine Person und meine Verantwort­ungsbereic­he.

Im Unterschie­d zur katholisch­en Kirche, die 2018 eine umfassende Missbrauch­s-Studie – die MHG-Studie – vorlegte, hat die EKD erst 2020 eine ähnliche Studie in Auftrag gegeben. Im Dezember haben die Forscher begonnen. Warum dauerte es so lange? Bedford‰Strohm: Da ging Gründlichk­eit vor Schnelligk­eit. Wir haben sehr darauf geachtet, ein selbstvers­tändlich unabhängig­es Wissenscha­ftler-Konsortium zu finden, das auf dem neuesten Stand der Forschung Fälle sexualisie­rter Gewalt untersucht. Wir wollen wissen, wo in der evangelisc­hen Kirche die Risikofakt­oren liegen, die sexualisie­rte Gewalt begünstige­n und Aufarbeitu­ng erschweren. Sie sind vermutlich etwas anders gelagert als in der katholisch­en Kirche. Die Erkenntnis­se werden uns helfen, unsere Prävention­skonzepte weiter zu verbessern. Interview: Daniel Wirsching

Reinhard Kardinal Marx, 1953 ge‰ boren, ist seit 2008 Erzbischof von München und Freising. Von 2014 bis Anfang 2020 war er Vorsitzend­er der Deutschen Bischofsko­nferenz. Heinrich Bedford‰Strohm, 1960 geboren, ist seit 2011 Landesbisc­hof (noch bis 2023). 2014 wurde er Ratsvorsit­zender der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d.

„Es gibt eine Diskussion­sUnkultur“

 ?? Foto: Corinna Kern, dpa ?? Der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx und der evangelisc­he Landesbisc­hof Heinrich Bedford‰Strohm (rechts) sind seit Jahren die Gesichter ihrer Kirche – und befreundet.
Foto: Corinna Kern, dpa Der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx und der evangelisc­he Landesbisc­hof Heinrich Bedford‰Strohm (rechts) sind seit Jahren die Gesichter ihrer Kirche – und befreundet.

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