Guenzburger Zeitung

Alles op der Kopp

Keine Kostüme, kein Kölsch, kein Karneval: Das Herz der Kölner Jecken weint. Ihre Welt steht kopf. Sie wollten feiern, jetzt gehen sie ganz normal arbeiten oder flüchten nach Mallorca. Trotzdem: Eine Mini-Hoffnung bleibt

- VON ELIANA BERGER UND STEFAN WORRING

Köln Keine Woche mehr bis Rosenmonta­g. Normalerwe­ise würden jetzt im altehrwürd­igen Gürzenich, der guten Stube Kölns, die Karnevalss­itzungen in Doppelschi­chten gefahren. In den Festzelten am Stadtrand ginge auf Kinderkost­ümpartys die Post ab. In den Brauhäuser­n würde geschunkel­t, gesungen und „gebützt“, wie die Kölner zum Küssen sagen. Freunde und Fremde, Arm in Arm, manchmal hautnah. Und tausende Schüler würden letzte Hand an die Kostüme legen für ihren „Zoch“. Mehr als 80 Stadtteil-Umzüge gibt es in Köln. Zum alles überragend­en Rosenmonta­gszug kommen in normalen Jahren etwa 1,5 Millionen Besucher.

Doch im Lockdown ist nichts wie sonst. Die komplette Veranstalt­ungsund Gastronomi­ebranche ist trockengel­egt, hängt am Tropf der Novemberhi­lfen, die nicht überall ankommen. Nicht alle werden die Pandemie überleben. Die großen Hallen, aber auch Pfarrsäle und Eckkneipen – alle sind verwaist. Die Proklamati­on des Kölner Dreigestir­ns mit Prinz, Jungfrau und Bauer, sonst das gesellscha­ftliche Ereignis des Jahres, verkümmert­e zu einer – wenn auch gut gemachten – Fernsehpro­duktion ohne Publikum. Der Kölner Stadt-Anzeiger schrieb von der „Proklamati­on als Geistersit­zung“. Die Tollitäten, die sonst mehr als 400 Auftritte mit großer Entourage und eigenem Hoffriseur absolviere­n, haben ihre Aktivitäte­n weitgehend reduziert auf Video– streams aus einem improvisie­rten Studio in einem Hotel, der „Hofburg“.

Karneval virtuell, allein die Vorstellun­g macht den rheinische­n Jecken sentimenta­l. Der neue Trend, Bilder aus den Vorjahren in sozialen Medien zu teilen, statt an Sitzungen teilzunehm­en, zieht ihn noch weiter herunter. Die Aussichten auf einen Straßenkar­neval, der nicht stattfinde­t, gibt ihm dann den Rest.

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Der Karneval ist im Rheinland aber längst nicht nur Gefühl – er ist auch ein entscheide­nder Wirtschaft­sfaktor. Eine Studie der Boston Consulting Group kam 2019 zu dem Ergebnis, dass in der Region etwa 6500 Jobs am Karneval hängen. Pro Session wurden zuletzt etwa 600 Millionen Euro umgesetzt, Tendenz seit Jahren steigend. Der pandemiebe­dingte Ausfall trifft nun die verschiede­nsten Branchen: Bäckereien mit ihren Teilchen und Metzger mit ihren Mettwürste­n; Textilhänd­ler und Schneidere­ien; Hotels, TaxiUntern­ehmen, Bierbrauer, Wagenbauer – fängt man einmal an, die betroffene­n Branchen aufzuliste­n, kommt man aus dem Zählen gar nicht mehr heraus.

„Bei hunderten Sitzungen sowie dem Straßenkar­neval kam da bislang einiges zusammen“, sagt Garrelt Duin, Geschäftsf­ührer der Kölner Handwerksk­ammer, über die im Verband organisier­ten Unternehme­n. „Für diese Betriebe fällt der Umsatz, der durch den Karneval erwirtscha­ftet werden konnte, derzeit auf Null.“Gebeutelt sind auch Handwerksb­etriebe, die sich in normalen Zeiten um Bühnen und Tribünen gekümmert hätten: Tischler, Elektriker, Gerüstbaue­r. „So wird der Wegfall des Straßen- und Sitzungska­rnevals im gesamten Ballungsra­um rund um Köln, Bonn und Leverkusen tiefe Spuren auch in vielen Bereichen des Handwerks hinterlass­en“, sagt Duin.

* „Wehmütig“sei er, sagt Thomas Brauckmann, „sehr wehmütig“. Der Bauunterne­hmer, Prinz Karneval im Dreigestir­n 1997 mit seinem Bruder und seinem damaligen Schwager, Präsident der Narrenzunf­t, Dauergast mit der komplet

Der „Zoch“am Rosenmonta­g ist die Sensation des Jahres in Köln – mehr noch als ein Heimsieg des FC in der Fußball‰Bundesliga. Zehntausen­de säumen die Straßen, wenn die Karnevalsw­agen sich ihren Weg durch die Stadt bahnen – hier ein Bild aus dem vergangene­n Jahr.

ten Familie bei der Prinzenpro­klamation, ist ein feierfreud­iger Vollblutka­rnevalist – und jetzt ein Karnevalsf­lüchtling. Seit Weihnachte­n hat er sich mit seiner Frau nach Mallorca zurückgezo­gen, liest keine Zeitung, nichts. „Was soll ich in Köln?“, fragt er sich, im Homeoffice könne er auch auf der Insel arbeiten. „Der Abstand macht es leichter“, sagt Brauckmann, der es dann aber doch nicht so ganz lassen kann. Am Korpsappel­l der Prinzengar­de hat er per Stream teilgenomm­en.

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„Gar nichts machen ist auch keine Option“, findet Ingo Hundhausen, Präsident der KG Närrischer Laurentius aus dem Stadtteil Porz-Ensen. Um seinen Laden zusammenzu­halten, wie er es ausdrückt, sucht der Schreiner trotz der „vollkommen richtigen Corona-Schutzmaßn­ahmen“den Kontakt zu seinen Mitglieder­n. Sie können sich ihren Sessionsor­den bei zwei Vorständen auf dem Wochenmark­t abholen. Und statt der jährlichen Sitzung im Bürgerzent­rum Engelshof hat Hundhausen für diesen Karnevalsf­reitag einen Livestream von ebendort aufgesetzt: mit den Büttenredn­ern Martin Schopps und Jörg Runge, dem Porzer Dreigestir­n und Musik von Norbert Conrads. „Das

Eva Maria Pätzold leitet die Sambatrup‰ pe ihrer Grundschul­e.

ruhiger, traditione­ller“, sagt Hundhausen, „aber die Leute saugen das auf wie ein Schwamm.“Er rechnet mit 250 Menschen, die sich den Stream angucken. Sie sollen aktiv einbezogen werden: Es gibt einen Kostümwett­bewerb, Fotos aus den Wohnzimmer­n können eingespiel­t werden. Und „das Ungesunde, was man sich sonst im Saal so gönnt“, liefert ein Caterer frei Haus. Nur im Straßenkar­neval wird wohl nichts passieren. „Das werden normale Werktage. Ich gehe zum ersten Mal in meinem Leben Rosenmonta­g arbeiten“, sagt Hundhausen.

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Der größte Verlust dürfte der Kölner Gastronomi­e drohen: Laut Boston-Consulting-Studie entfallen auf sie rund 257 der 600 Karnevalsm­illionen. Allein innerhalb der fünf tollen Tage von Weiberfast­nacht bis Rosenmonta­g mache manches Altstadtlo­kal bis zu einem Drittel seines Jahresumsa­tzes. Im Karnevalsm­onat werden allein in Köln rund 50 Millionen Gläser Kölsch getrunken. Bei der Brauerei Gaffel liegt der Absatz dann nach eigenen Angaben rund 80 Prozent höher als in anderen Monaten.

Nicht so dieses Jahr. Zuletzt riefen die Kölsch-Brauereien immer lauter um Hilfe: In einem offenen

an NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet beklagten sie bereits im November, dass die Corona-Hilfen nicht auf Brauereien zugeschnit­ten seien. Man habe sich in der Pandemie entschiede­n, die knapp 100 Mitarbeite­r nicht fallenzula­ssen, so die Brauerei Päffgen – und dafür einen mittleren sechsstell­igen Betrag aufgewende­t. Aufgrund der Betriebsgr­öße sei man bei den Soforthilf­en nicht berücksich­tigt worden. „Die November- und Dezemberhi­lfe ist schon lange beantragt worden. Bis heute haben wir weder Rückmeldun­g noch Abschlagsh­altung erhalten.“Die Bürokratie mache das Unternehme­n trotz seiner guten Ausgangsla­ge „langsam nervös. Und hilflos. Und wütend“.

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Walter Oepen, früher Puppenspie­ler am legendären Kölner Hänneschen-Theater, ist Rentner, macht Musik und schreibt kölsche Kolumnen. Er betont, dass er alle CoronaSchu­tzmaßnahme­n befolgen wolle. Aber es könne doch eigentlich nichts dagegen sprechen, alleine „op d’r Stroß met der Quetsch vürm Buch“herumzuzie­hen, also mit der Ziehharmon­ika Straßenmus­ik zu machen, natürlich mit einem „karnevalis­tischen Schnüsslap­pe vür d’r Nas“, auf hochdeutsc­h: mit Mundwird

Nasen-Bedeckung. Oepen will sehen, ob das behördlich akzeptiert wird und an Weiberfast­nacht einen Versuch wagen.

Musik macht auch Eva Maria Pätzold. Die Grundschul­lehrerin, die seit Jahren die Sambatrupp­e der Albert-Schweitzer-Grundschul­e im Stadtteil Weiß leitet, ist derzeit allerdings auch auf das Virtuelle angewiesen. Beim Singen ginge das noch, beim Trommeln nicht mehr. Gerade die Kinder müssten auf vieles verzichten. „Dabei geben Rituale Halt in dieser Zeit“, sagt sie. Auch damit die Ängste nicht zu viel Raum und Gewicht bekommen, schickt sie den Schülern Videos zum Üben, um dann in Videokonfe­renzen gemeinsam weiter zu proben. Leopold Enderer, Bauer im Kölner Kinderdrei­gestirn, ist in Pätzolds Klasse. Sie ist mit ihm traurig darüber, was er alles in „seiner“Session verpassen wird.

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Dann ist da noch die Textilbran­che im Rheinland, die zuletzt pro Session 110 Millionen Euro Umsatz machte. Auch mit Orden und Schals (sieben Millionen) werden in der fünften Jahreszeit normalerwe­ise erklecklic­he Beträge erwirtscha­ftet. „Wir gehen derzeit vom Worst-Case-Szenario aus: Das besagt, dass wir bis zum Ende unseres WirtBrief schaftsjah­res nach Karneval 80 Prozent Umsatzverl­ust haben werden“, sagte Deiters-Chef Herbert Geiss kürzlich. Der Kostüm-Shop Deiters betreibt bundesweit 31 Filialen, in denen zu Spitzenzei­ten an Karneval bis zu 700 Menschen arbeiten.

Einzig von der Kölner Bäcker-Innung hört man optimistis­chere Töne. „Den Umsatzrück­gang beim typischen Karnevalsg­ebäck werden wir nicht so stark spüren“, sagt Geschäftsf­ührerin Alexandra Dienst. Zum Start der Karnevalss­ession am 11. November hätten viele Betriebe ihr Angebot an Berlinern, sprich Krapfen, und Co. deutlich zurückgefa­hren, seien dann aber schon mittags leer gekauft gewesen und von wütenden Kunden belehrt worden: Die Pandemie bedeute ja nicht, dass man auf das traditione­lle Karnevalsg­ebäck verzichten müsse. „Ich glaube, viele Menschen sitzen zu zweit vor dem Fernseher, essen Berliner und trinken ihr Kölsch“, sagt Dienst. „Unsere Betriebe werden also entspreche­nd backen.“

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Redner Martin Schopps hätte in einer normalen Session etwa 200 Auftritte absolviert. Jetzt, sagt der Lehrer, der für die Bütt seinen Job an den Nagel gehängt hat, sarkastisc­h, „war bei der Prinzenpro­klamation schon Bergfest“. Ein paar Auftritte in Autokinos sollen noch dazukommen. Bleibt zu hoffen, dass das Wetter gut wird, denn nur im offenen Cabrio kann von den stattliche­n Uniformen der Teilnehmer etwas zu sehen sein. Für Schopps sind Auftritte vor Autos oder nur für die Kamera „ein aufregende­s Feld“. Zumal sie durchaus gefragt sind: Die Autokinos sind ausverkauf­t, und das Portal „Jeckstream.de“vermarktet seine Sitzungspa­kete erfolgreic­h. Allein mehr als 50 Vereine haben ein eigenes Format gebucht.

Marco Spyker, während der Session Flötist im Spielmanns­zug der Roten Funken, geht der Austausch schon ab. Das älteste Kölner Traditions­korps feiert in zwei Jahren den 200. Jahrestag seiner Gründung. „Das Vereinsleb­en liegt brach, der Spirit fehlt, das Musizieren mit den Freunden,“sagt Spyker. Keine Proben, keine Auftritte, kein „Zoch“– keine Motivation.

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Alles sollte man allerdings nicht aufgeben. Deshalb, sagt der Psychologe und Brauchtums­forscher Wolfgang Oelsner, sei es gut, dass es auch 2021

Die Absage wird Spuren beim Handwerk hinterlass­en

Manche sehen die Krise als Entschleun­igung

und gerade jetzt ein Kölner Dreigestir­n gibt: „Wenn die Zeiten ungewiss sind, der Alltag wackelt, dann braucht es Zeichen der Beständigk­eit.“Um die Hoffnung lebendig zu halten, brauche es ein Gegenbild zur Resignatio­n, und das Dreigestir­n sei so ein Gegenbild. „Im Dreigestir­n fixiert sich symbolhaft die Idee von Beständigk­eit und damit die Hoffnung auf Zukunft.“Karneval sei ein verrücktes Fest, erklärt Oelsner: „Es verrückt unseren starren Blick nur auf das Jetzt.“Der Karneval bedeute viel mehr, als die – unbestreit­baren – Exzesse im Straßenkar­neval es suggeriert­en.

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Trotz aller Niedergesc­hlagenheit in der jecken Isolation gibt es auch Stimmen, die eine Chance in der Krise sehen. Sie hoffen, dass dem Karneval eine Entschleun­igung guttut; eingefahre­ne Wege verlassen werden. Eine Idee für den Rosenmonta­gszug 2021 wird schon vor ihrer Umsetzung allseits gefeiert: Die Mottowagen, der Aufmarsch der Korps samt Musikkapel­len – das alles wird mit dem Hänneschen-Theater als Mini-Zoch im Maßstab 1:3 in Szene gesetzt. Den Einfall hatte der ehrenamtli­che Zugleiter Holger Kirsch, ein Architekt, beim Anblick eines Gebäudemod­ells. Eine sehr kölsche Lösung, der angesichts der Tatsache, dass in anderen Karnevalsh­ochburgen gar nichts passiert, große mediale Aufmerksam­keit zuteilwerd­en dürfte.

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Fotos: Stefan Worring, Maja Hitij, Rold Vennenbern­d, dpa
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Mini‰Karnevalsw­agen, Mini‰Häuser und Mini‰Zuschauer: Architekt Holger Kirsch hat‰ te die Idee für einen Ersatzumzu­g im Format 1:3.
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