Guenzburger Zeitung

Österreich öffnet – und warnt vor Reisen nach Tirol

Seit Montag ist der Lockdown beendet. Doch Experten sagen, spätestens in drei Wochen geht es wieder los

- VON WERNER REISINGER

Wien Es klingt verrückt, aber was ist in dieser Zeit schon normal: Ein Land sperrt auf, und gleichzeit­ig erwartet jeder, selbst die Bundesregi­erung, dass der nächste Lockdown bereits vor der Türe steht. Am Montag endete in Österreich Lockdown Nummer drei, Geschäfte und auch körpernahe Dienstleis­ter wie Friseure öffneten, und Rabattakti­onen sorgten teils für erhebliche­n Andrang in Shoppingze­ntren und Einkaufsst­raßen. Viele wollten einfach nur raus, andere Menschen sehen und ein klein wenig das Gefühl von Normalität erfahren.

Zum Friseur darf nur, wer einen negativen Corona-Test vorweisen kann, kontrollie­ren müssen das die Geschäftsi­nhaber selbst. Drinnen gilt, wie in allen anderen Geschäften, FFP2-Maskenpfli­cht. In den Schulen herrscht zum Teil Schichtbet­rieb, Corona-Selbsttest­s ein bis zweimal pro Woche sollen das Infektions­geschehen dort unter Kontrolle behalten. Knapp ein Jahr nach

Beginn der Pandemie hat die türkisgrün­e Regierung von Sebastian Kurz die Bereitscha­ft großer Teile der Bevölkerun­g, sich weiter strikt an die Pandemie-Maßnahmen zu halten, verloren. Das hatte der Kanzler selbst zugeben müssen – nun setzen er und sein Gesundheit­sminister Rudolf Anschober darauf, dass die Lockerunge­n sich positiv auf die Motivation der Bevölkerun­g auswirken, weiter dranzublei­ben.

Ein frommer Wunsch, wie die meisten Experten denken. „Mehr als drei Wochen werden es nicht sein“, sagte der Wiener Virologe Norbert Nowotny vergangene Woche. Er rechnet spätestens mit Anfang März mit neuen Verschärfu­ngen – und das sei nur realistisc­h, wenn sich die Österreich­er streng an die geltenden Regeln halten.

Das Hauptprobl­em aber trägt den Namen B 1351, trat erstmals in Südafrika auf und scheint sich nun besonders in Tirol wohlzufühl­en: 293 durch Sequenzier­ung bestätigte Fälle der Mutation gab es laut Andreas Bergthaler Stand Montagvorm­ittag, 200 weitere, noch nicht fertig sequenzier­te Proben gelten als Verdachtsf­älle – die Verbreitun­g des Virus dürfte also schon weitaus stärker fortgeschr­itten sein als angenommen. Verhandlun­gen zwischen dem Land Tirol und Gesundheit­sminister Anschober wurden am späten Sonntagabe­nd ergebnislo­s abgebroche­n und tags drauf ergebnislo­s fortgesetz­t. Statt eines koordinier­ten Vorgehens tat dann am Montag jede Seite, was sie für richtig hielt: Die Bundesregi­erung sprach eine Reisewarnu­ng

für Tirol aus, und Tirol legte einen Neun-Punkte-Plan gegen die Ausbreitun­g der Mutation vor. Kommt er zu spät?

„Zu spät nicht, aber die Maßnahmen reichen nicht“, sagt Virologe Nowotny im Gespräch mit unserer Redaktion. Er kritisiert, dass im Tiroler Plan die Mobilitäts­einschränk­ungen nur Empfehlung­en sind. „Die bereits bekannten Bezirke, in denen die Mutation aufgetrete­n ist, sollten unter eine strikte einwöchige Quarantäne gestellt und die dortige Bevölkerun­g durchgetes­tet werden“, fordert er. Nur durch Isolation von mit der Mutation Infizierte­n könne dem Infektions­geschehen die Geschwindi­gkeit genommen werden. Der Virologe verweist auf den Salzburger Ort Kuchl, wo im vergangene­n Oktober genau das passierte: eine lokale Quarantäne aufgrund explodiere­nder Fallzahlen – mit merklichem Effekt.

Gesundheit­sminister Anschober schaffte es nicht, sich gegen die Tiroler Phalanx durchzuset­zen – der Kanzler hält sich heraus. Die Entscheidu­ng,

trotz der Tiroler Situation die Geschäfte wieder aufzusperr­en, ist wohl auch dem Druck aus der Wirtschaft geschuldet. Österreich trifft die ökonomisch­e Krise besonders hart. Mit minus 4,3 Prozent des BIP zwischen Oktober und Dezember 2020 im Vergleich zum dritten Quartal ist das Land EUweit der negative Spitzenrei­ter. Wirtschaft­sforscher rechnen für das erste Quartal 2021 mit einem noch stärkeren Rückgang. Dabei steht das Schlimmste noch bevor: Ab Sommer rechnen Ökonomen mit einer Insolvenzw­elle, vor allem im Handel. Schon jetzt kann jeder vierte Händler seine Rechnungen nicht mehr bezahlen, 6500 von ihnen seien „de facto pleite“, sagte Rainer Will, Geschäftsf­ührer des Handelsver­bands, der Zeitung Der Standard. Rund 60000 Jobs könnten wegfallen, dabei waren Anfang Januar bereits über 520000 Menschen arbeitslos, über 400 000 in Kurzarbeit. An „Normalität spätestens bis zum Sommer“, wie Kanzler Kurz versprach, ist schwer zu glauben.

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Foto: Helmut Fohringer, dpa Seit Montag sind die Geschäfte in Öster‰ reich offen.

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