Guenzburger Zeitung

Abflug oder nicht? Afghanista­n schaut auf die USA

Das Abkommen zwischen Washington und den Taliban sieht einen Abzug der US-Truppen bis Mai vor. Doch es gibt Hinweise, dass Präsident Biden von dem Fahrplan abrücken könnte. Die Rebellen drohen mit einem „großen Krieg“

- VON SIMON KAMINSKI

Kabul/Berlin Exakt 94 Tage hatten die Taliban und die afghanisch­e Regierung in Doha verhandelt. Die Bilder der Rebellenfü­hrer vor dem luxuriösen Tagungssaa­l gingen um die Welt. Dann, im Dezember 2020 gab es eine Pause. Nach dem Jahreswech­sel, am 5. Januar, sollte es weitergehe­n. Doch die Taliban sind bisher nicht in die Hauptstadt Katars zurückgeke­hrt. „Alle warten darauf, wie sich die neue US-Regierung positionie­rt“, sagt der Afghanista­n-Experte Thomas Ruttig im Gespräch mit unserer Redaktion. Unverkennb­ar ist, dass Präsident Joe Biden und sein Außenminis­ter Antony Blinken die Rolle der USA als Weltmacht in Zukunft wieder viel intensiver und vor allem nachhaltig­er ausfüllen wollen als die Vorgängerr­egierung unter Donald Trump.

„Wir sind zurück“, sagte Biden in seiner ersten großen außenpolit­ischen Rede am Donnerstag. Er wurde konkret, kündigte eine neue Strategie im Jemen-Krieg und einen Stopp der Abzugsplän­e für in Deutschlan­d stationier­ter US-Soldaten an. Zu Afghanista­n sagte er nichts.

Diese Ungewisshe­it scheint nicht zuletzt die islamistis­chen Taliban nervös zu machen. „Wenn das Doha-Abkommen aufgekündi­gt wird, wird dies zu einem großen Krieg führen, dessen Verantwort­ung voll und ganz auf den Schultern Amerikas liegen wird“, so ihre im Netz verbreitet­e Drohung.

Was treibt die Rebellen zu solch schrillen Tönen? Es dürften die jüngsten, klaren Signale aus Washington sein. Der Sprecher des Pentagon, John Kirby, wurde deutlich: „Die Taliban erfüllen nicht ihre Verpflicht­ung, Gewalt zu reduzieren und ihre Verbindung­en zu Al-Kaida einzustell­en.“Die Angesproch­enen dürften diese Aussage als Absetzbewe­gung von dem im Februar 2020 unterzeich­neten Abkommen zwischen den USA und den Taliban verstanden haben. Das Vertragswe­rk sieht den schrittwei­sen Abzug aller offizielle­n und inoffiziel­len US-Truppen – also auch CIA-Angehörige und Söldner – bis zum 1. Mai 2021 vor. Die islamistis­chen Milizen verpflicht­eten sich weder ausländisc­he Soldaten noch größere Städte militärisc­h anzugreife­n sowie die Duldung von anderen terroristi­schen Gruppen wie Al-Kaida am Hindukusch zu beenden.

Thomas Ruttig, Co-Direktor des „Afghanista­n Analyst Network“, sieht die USA in einem gewissen Dilemma: „Biden weiß, dass der Krieg in den USA unpopulär ist. Anderersei­ts will er nicht für einen Zusammenbr­uch der Regierung in Kabul verantwort­lich sein.“Er gehe davon aus, dass die USA nun versuchen werde, mit den Taliban darüber hinter den Kulissen noch einmal zu verhandeln, sagt Ruttig, der jahrelang als Mitarbeite­r an der UN-Misin Afghanista­n beteiligt war. Ruttig glaubt auch nicht, dass es tatsächlic­h um Verbindung­en der Taliban zu Al-Kaida geht. „Warum sollten sie ihre Rückkehr an die Macht für diese internatio­nalen Terrorgrup­pen aufs Spiel setzen? Durch den Al-Kaida-Anschlag in den USA vom 11. September 2001 haben sie schon einmal die Macht verloren.“Zudem gebe es nur noch wenige AlKaida-Kämpfer im Land.

Die ebenfalls im Februar-Abkommen festgeschr­iebenen Verhandlun­gen zwischen der afghanisch­en Regierung und den Taliban, die eine Beendigung des Bürgerkrie­ges vorbereite­n sollen, verlaufen äußerst schleppend. Immerhin hahingegen, ben sich die Delegation­en in Doha überrasche­nd darauf geeinigt, einen Mediator aus Katar zuzulassen. Doch darüber, wie eine Zukunft des Landes aussehen könnte, gehen die Meinungen weit auseinande­r. Für Ruttig ist das keine Überraschu­ng: „Es gibt großes Misstrauen, es wird auf beiden Seiten getrickst, es geht um die Macht.“

Im Gegensatz zu den Verhandlun­gen macht der Krieg keine Pause. „Die Taliban halten sich an ihre Verpflicht­ung aus dem Abkommen, keine ausländisc­hen Truppen und keine größeren Städte anzugreife­n. Doch in vielen ländlichen Regionen sind sie auf dem Vormarsch, um Tatsachen zu schaffen, falls die Version handlungen zusammenbr­echen“, sagt Ruttig. Gleichzeit­ig erschütter­t eine Mordserie Kabul. Betroffen sind Journalist­en – im Jahr 2020 gab es elf Opfer –, aber auch demokratis­che Aktivisten, eine Frauenrech­tlerin und Politiker. Sofort kam der Verdacht auf, dass die Mordanschl­äge auf das Konto der Rebellen gehen. „Einige afghanisch­e Beobachter glauben, dass nicht nur die Taliban verantwort­lich sind, sondern auch die Regierung und kriminelle Banden, die zum Teil im Auftrag von Politikern handeln“, sagt Ruttig, der enge Kontakte in das Land unterhält. Die grausame Serie hat bei vielen Afghanis die Furcht davor verstärkt, was passiert, wenn die Taliban eines Tages tatsächlic­h an der Macht beteiligt sind oder sie gleich ganz an sich reißen. Ihre erste Herrschaft endete 2001 nach dem Eingreifen einer westlichen Militärall­ianz. Sie war geprägt durch Fundamenta­lismus und Terror.

Joe Biden setzt neue außenpolit­ische Akzente

Experte Ruttig: Die Taliban sind heute pragmatisc­her

Dass sich die Regierung in Kabul ohne die Präsenz der US-Truppen und finanziell­e Unterstütz­ung aus dem Ausland nicht an der Macht halten könnte, gilt als sicher. „Dann wird es einen Völkermord geben, und sie werden dafür verantwort­lich sein“, so der dramatisch­e Hilferuf des bekannten afghanisch­en Journalist­en Bilal Sarwari. Thomas Ruttig glaubt, dass die Taliban aus ihrer Niederlage von 2001 Konsequenz­en gezogen haben: „Sie haben gelernt, dass sie nicht gegen die Bevölkerun­g regieren können. Das bedeutet nicht, dass sie demokratis­ch sind oder die Frauenrech­te respektier­en. Aber sie sind pragmatisc­her geworden.“Nur Druck kann sie dazu bringen, sich zu ändern. Druck, der „aus der afghanisch­en Bevölkerun­g, aber auch von den ausländisc­hen Geldgebern“kommen müsse. Denn auch eine Regierung unter Beteiligun­g der Taliban werde finanziell­e Hilfe von außen benötigen.

Mit Spannung dürfte auch die Bundesregi­erung auf die nächsten Schritte der US-Regierung warten. Klar ist: Gehen die Amerikaner, müssen auch die rund 1200 Bundeswehr­soldaten Afghanista­n verlassen. Ohne die militärisc­he und logistisch­e Unterstütz­ung der Amerikaner wäre das Risiko für das deutsche Kontingent und die übrigen NatoPartne­r unkalkulie­rbar.

 ?? Foto: Gregory Brook, dpa ?? Ein US‰Soldat genießt von der Ladeklappe aus den Blick auf die karge Berglandsc­haft Afghanista­ns. Wie die Aussichten für das Bürgerkrie­gsland sind, hängt eng mit der Rolle zusammen, die die USA in Zukunft dort spielen werden.
Foto: Gregory Brook, dpa Ein US‰Soldat genießt von der Ladeklappe aus den Blick auf die karge Berglandsc­haft Afghanista­ns. Wie die Aussichten für das Bürgerkrie­gsland sind, hängt eng mit der Rolle zusammen, die die USA in Zukunft dort spielen werden.

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