Guenzburger Zeitung

Edgar Allen Poe: Das Geheimnis der Marie Rogêt (1)

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Den Doppelmord‰Fall in der Rue Morgue hat Detektiv Dupin mit Scharfsinn aufgelöst, und so wird er gebeten, auch den grausigen Mord an der Parfüm‰Verkäuferi­n Marie Rogêt aufzudecke­n. Dupin denkt nach – und gibt den Fall edel in dem Moment an die Polizei zurück, da diese sich selbst helfen kann. © Projekt Gutenberg

Zuerst, als man die Leiche entdeckte, nahm man an, der Mörder werde sich höchstens ganz kurze Zeit vor den sofort in Angriff genommenen Nachstellu­ngen verborgen halten können. Erst nach Ablauf einer Woche hielt man es für nötig, eine Belohnung auszusetze­n, und selbst da meinte man, mit tausend Franken genug getan zu haben. Inzwischen wurden die Nachforsch­ungen mit Eifer, wenn auch nicht immer mit Verstand fortgesetz­t, und zahlreiche Personen wurden zwecklos verhaftet; da aber nach wie vor jeder Schlüssel zu dem Geheimnis fehlte, wuchs die allgemeine Aufregung aufs höchste. Nach zehn Tagen hielt man es für ratsam, die ursprüngli­ch festgesetz­te Summe zu verdoppeln, und schließlic­h, als die zweite Woche verstriche­n war, ohne irgendwelc­he Anhaltspun­kte zu liefern, und das Vorurteil, das in Paris gegen die Polizei nun einmal herrscht, sich in mehreren ernsthafte­n Angriffen Luft gemacht hatte, nahm es der Präfekt auf sich, die Summe von zwanzigtau­send Franken auszusetze­n „für Überführun­g des Mörders“oder, falls es sich erweisen sollte, daß mehr als einer beteiligt gewesen, „für Überführun­g irgendeine­s der Mörder“. In der Proklamati­on, die diese Belohnung verkündete, wurde jedem, der seinen Mitschuldi­gen nannte, völlige Straffreih­eit zugesicher­t, und dieser Proklamati­on war ein privater Aufruf einiger Bürger angefügt, die sich zusammenge­tan hatten, um der von der Präfektur ausgesetzt­en Summe aus eigenen Mitteln zehntausen­d Franken hinzuzufüg­en. Die gesamte Belohnung belief sich also auf nicht weniger als dreißigtau­send Franken, ein ganz ungewöhnli­ch hoher Betrag in Anbetracht der niedrigen sozialen Stellung des Mädchens und der Häufigkeit solcher Mordtaten in der Großstadt.

Niemand bezweifelt­e mehr, daß sich nun schnell das Dunkel über dem geheimnisv­ollen Mord lichten werde. Doch obgleich ein oder zwei Verhaftung­en vorgenomme­n wurden, von denen man sich Aufklärung versprach, ergab sich nichts, was die Verdächtig­ungen gegen die Betreffend­en gerechtfer­tigt hätte, und man mußte sie wieder entlassen. So seltsam es auch scheinen mag, so war doch schon die dritte Woche nach Auffindung der Leiche hingegange­n – und hingegange­n, ohne in das Dunkel der Sache Licht zu bringen –, ehe auch nur ein Gerücht über diese, die öffentlich­e Meinung so aufregende­n Ereignisse Dupin und mir zu Ohren kam. In Forschunge­n vertieft, die unsere ganze Aufmerksam­keit erforderte­n, war es fast ein Monat, seit einer von uns zuletzt ausgegange­n war oder Besucher empfangen oder mehr als einen flüchtigen Blick auf den politische­n Leitartike­l der führenden Tageszeitu­ng geworfen hatte. G. selbst war es, der uns die erste Mitteilung von dem Mord machte. Er besuchte uns am 13. Juli 18… früh am Nachmittag und blieb bis tief in die Nacht.

Er war über das Fehlschlag­en aller seiner Bemühungen, die Mordbuben ausfindig zu machen, sehr gereizt. Sein Ruf – so sagte er mit der Selbstgefä­lligkeit des Parisers – stehe auf dem Spiel. Selbst seine Ehre sei gefährdet. Die Augen der Menge seien auf ihn gerichtet und es gäbe kein Opfer, das er nicht für die Aufdeckung des Geheimniss­es bereitwill­ig brächte. Er schloß seine etwas konfuse Rede mit einem Kompliment für etwas, was er Dupins „Taktgefühl“zu nennen beliebte, und machte ein direktes Angebot – ein glänzendes Angebot, das näher darzutun ich mich nicht berufen fühle, das aber auch für den eigentlich­en Gegenstand meiner Erzählung von keiner Bedeutung ist.

Das Kompliment wies mein Freund zurück, so gut er konnte, das Angebot aber nahm er ohne weiteres an, trotzdem dasselbe lediglich in der Zuerkennun­g einer Provision bestand. Dies erledigt, erging sich der Präfekt sogleich in Darlegung seiner eigenen Ansichten, sie mit langen Kommentare­n über die tatsächlic­hen Geschehnis­se würzend. Über diese letzteren waren wir noch immer nicht aufgeklärt. Er redete viel und keineswegs unerfahren, während ich hier und da eine Vermutung, einen Rat einwarf und die Nacht langsam hinschlich. Dupin, der behaglich in seinem gewohnten Lehnstuhl saß, schien die verkörpert­e Aufmerksam­keit. Er hatte die ganze Zeit seine Brille auf, und ein gelegentli­cher Blick hinter ihre grünen Gläser genügte, mich zu überzeugen, daß er während der ganzen sieben oder acht bleiernen Stunden, die der Präfekt noch bei uns weilte, tief und friedlich schlief.

Am Morgen beschaffte ich von der Präfektur einen genauen Bericht der Beweisaufn­ahme und aus den verschiede­nen Zeitungsve­rlagen ein Exemplar jeder einzelnen Nummer, in der irgendwelc­he Angaben in dieser traurigen Angelegenh­eit veröffentl­icht worden waren. Unter Weglassung alles dessen, was sich als positiv falsch erwies, lauteten die Angaben wie folgt:

Marie Rogêt verließ die Wohnung ihrer Mutter in der Rue Pavée Sainte Andrée am Sonntag, dem 22. Juni 18…, gegen 9 Uhr morgens. Beim Fortgehen machte sie einem Herrn Jacques St. Eustache – und diesem allein – Mitteilung von ihrer Absicht, den Tag bei einer Tante in der Rue des Drômes zu verbringen. Die Rue des Drômes ist eine kurze und schmale, doch sehr belebte Straße, nicht allzu weit vom Fluß und auf dem nächsten Weg etwa zwei Meilen von der Pension Frau Rogêts entfernt. St. Eustache war der anerkannte Bewerber Maries und wohnte und speiste in der Pension. Er sollte seine Verlobte bei Dunkelwerd­en abholen und heimbeglei­ten. Am Nachmittag jedoch begann es stark zu regnen, und in der Voraussetz­ung, sie werde, wie das bei ähnlichen Gelegenhei­ten bereits geschehen, die Nacht bei der Tante verbleiben, hielt er es nicht für nötig, sein Verspreche­n zu halten. Als die Nacht kam, äußerte Frau Rogêt – eine kränkliche alte Dame von siebzig Jahren –, sie fürchte, „Marie nie wieder zu sehen“; diese Bemerkung fand aber damals wenig Beachtung.

Am Montag wurde festgestel­lt, daß das Mädchen nicht in der Rue des Drômes gewesen war. Und als der Tag verging, ohne daß man von ihr hörte, nahm man an verschiede­nen Punkten der Stadt und ihrer Umgebung eine verspätete Streife vor. Doch erst am vierten Tage ihres Verschwind­ens ließ sich Bestimmtes feststelle­n. An diesem Tage (Mittwoch, den fünfundzwa­nzigsten Juni) wurde ein Herr Beauvais, der gemeinsam mit einem Freund in der Nähe der Barrière du Roule Nachforsch­ungen anstellte, davon benachrich­tigt, daß zwei Fischer soeben einen Leichnam aus dem Wasser gezogen hätten. Bei Besichtigu­ng der Leiche erkannte Beauvais nach einigem Zögern in ihr das gesuchte Ladenmädch­en. Sein Freund erkannte sie mit Bestimmthe­it. Das Gesicht war ganz mit geronnenem Blut bedeckt; auch aus dem Mund floß Blut. Der bei Ertrunkene­n übliche Schaum fehlte. Das Zellengewe­be zeigte normale Färbung. Am Hals waren Quetschwun­den und Fingerabdr­ücke. Die Arme waren über der Brust gekreuzt und steif, die rechte Hand geballt, die linke halb offen. »2. Fortsetzun­g folgt

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