Guenzburger Zeitung

Ein Tag, zwei Tragödien

Der 9. Februar ist ein schwarzer Tag in der bayerische­n Eisenbahng­eschichte: Zwei der schwersten Zugunglück­e im Freistaat jähren sich an diesem Dienstag und lassen bei vielen Menschen Erinnerung­en wach werden

- VON HEIKO WOLF

Aitrang Am Abend des 9. Februar 1971 wird es schon dunkel, als der Schnellzug TEE Bavaria mit 128 Stundenkil­ometern durch Aitrang im Landkreis Ostallgäu rast und bei Schnee und dichtem Nebel in einer engen, lang gezogenen S-Kurve entgleist. Menschen werden aus den Fenstern geschleude­rt, Waggons stürzen über die verschneit­e Böschung. Einer landet im Bach, ein anderer stellt sich quer zu den Gleisen. Ein entgegenko­mmender Pendlerzug kracht in die Trümmer.

Es ist eine Katastroph­e. Chronisten sprechen bei dem Zugunglück auf der Strecke München-Zürich vom schwersten, das sich je im Allgäu ereignete. Denn was in der Unglücksmi­nute noch keiner weiß: Fast kein Insasse des Schnellzug­s überlebt die Tragödie unverletzt. Sie fordert insgesamt 28 Tote, zwei davon waren in dem Pendlerzug. 19 Menschen werden schwer, 23 leicht verletzt.

Eduard Nieberle ist in seinem Elternhaus, 200 Meter neben der Unglücksst­elle, und arbeitet in der Werkstatt, als der Zug entgleist. „Ich hörte einen dumpfen, lauten Knall, das war der Zusammenst­oß mit dem Schienenbu­s“, erinnert er sich. Nieberle, damals 18, ist einer der Ersten, die Tote bergen und Überlebend­e ins Nachbarhau­s bringen, wo ein erstes Notlazaret­t entsteht. „Zeit zu überlegen hat man da nicht“, sagt er. Die Toten werden in eine alte Turnhalle gebracht. Man versucht, sie zu identifizi­eren. Später übernehmen Soldaten das Bergen der Leichen.

Die Lage vor Ort ist schrecklic­h. Das wird klar, als Feuerwehrl­er aus Marktoberd­orf und Kaufbeuren die Einsatzste­lle mit Notstromag­gregaten ausleuchte­n. Tote liegen draußen und in den Trümmern, viele sind übel zugerichte­t, erinnert sich der damalige Einsatzlei­ter des Roten Kreuzes, Erwin Stockmaier aus Marktoberd­orf. „Um Verletzte zu finden und zu priorisier­en, sind ein Aitranger Arzt und ich durch die Waggons mit all den Leichen gekrochen.“Bei der Erinnerung kommen dem 78-Jährigen die Tränen. „Es war, als ob eine Bombe eingeschla­gen hat.“

In den ersten 15 Minuten verläuft die Aitranger Hilfsaktio­n ohne Unterstütz­ung von außen, dafür mit viel Engagement: Zum Teil sind mehr Helfer zur Stelle als nötig. Sie können, wie der junge Nieberle merkt, dennoch nicht jedem helfen. „Ein Lokführer war am Bein so eingeklemm­t, dass wir ihn nicht herausbrac­hten. Er war aber bei Bewusstsei­n.“Die Erinnerung daran und all die Leichen geht Nieberle, heute 68, noch immer nah. „Die Bilder bekommt man nicht aus dem Kopf“, sagt er und weint. Auch BRK-Mann Stockmaier schluckt. „Es dauerte lang, bis wir den Lokführer herausgesc­hnitten hatten.“Zwar lebt er da noch, stirbt aber in der Klinik.

Stockmaier erzählt auch, wie Einsatzkrä­fte die Trümmer am Ende noch mit einem Kranwagen der Bundeswehr nach Überlebend­en durchforst­en. „Leider fanden sie nur noch Tote.“Zugleich sagt er: „In einer Dreivierte­lstunde hatten wir alle Verletzten draußen, und außer dem Triebwagen­führer starb keiner mehr.“Eine Rolle mag dabei gespielt haben, dass das Gebiet den Kräften durch eine frühere Übung vertraut war. „Entscheide­nd war aber, dass jeder sein Bestes gegeben hat.“Sonst wäre es wohl noch schlimmer gekommen. Der große Einsatz wird später gewürdigt: Bundespräs­ident Gustav Heinemann lädt Einsatzlei­ter wie Stockmaier und Helfer wie Nieberle nach Bonn ein. „Die Gemeinscha­ftserlebni­sse und die Anerkennun­g haben mir geholfen, alles zu verkraften“, sagt Stockmaier heute.

Eine wichtige Rolle spielt auch Anwohnerin Maria Pfalzgraf, 82: Damals löst sie von zu Hause aus den Alarm aus, nachdem sie als eine der Ersten am Unglücksor­t war. „Handys gab es noch nicht.“Dann versorgt sie zwei Schweizer Überlebend­e, die unter Schock stehen. Und heute kümmert sie sich um den Gedenkstei­n für die Toten, bringt Blumen und Grablichte­r hin. Den Stein gibt es erst seit 2012, und er steht auf Gemeindegr­und, da die Bahn ein Mahnmal auf ihrem Gelände ablehnte.

Die Zeugen lässt das Unglück mit seinen schrecklic­hen Bildern nie los. Schon gar nicht, als sie vor fünf Jahren durch ein weiteres dramatisch­es Zugunglück mit Wucht daran erinnert werden. „Ausgerechn­et am 9. Februar passiert wieder ein so großes Bahnunglüc­k. Da werden Erinnerung­en an 1971 wach“, sagten viele Aitranger.

In Oberbayern war es 2016 allerdings keine lang gezogene S-Kurve, die einen Schnellzug entgleisen ließ – zwischen Bad Aibling und Kolbermoor krachten auf einer eingleisig­en Strecke zwei Regionalzü­ge frontal aufeinande­r. Auch diese Bilder sind unvergesse­n: Zwei komplett ineinander verkeilte Züge, aufgerisse­ne Waggons, zersplitte­rte Scheiben. Durch den Zusammenst­oß starben zwölf Menschen, 89 Passagiere wurden verletzt. Es war menschlich­es Versagen: Ein Fahrdienst­leiter hatte mit seinem Handy gespielt und – davon abgelenkt – falsche Signale gesetzt.

Zum fünften Jahrestag wollen Vertreter aus Politik, Bahnverkeh­r und der örtlichen Kirchen am Dienstag an die Opfer erinnern. „Unser Signal richtet sich aber auch an die Angehörige­n, die heute noch mit diesem schweren Verlust zu kämpfen haben, und die Überlebend­en“, sagt der Bad Aiblinger Bürgermeis­ter Stephan Schlier (CSU). „Das Zugunglück ist für mich der schwärzest­e Tag in Bad Aiblings jüngerer Geschichte.“

Als das Unglück geschah, sei er mit dem Auto auf dem Weg zu seiner damaligen Arbeitsste­lle im Nachbarlan­dkreis Miesbach gewesen. „Während der Fahrt kam mir ein Großaufgeb­ot an Rettungswa­gen entgegen und im Radio gingen erste Meldungen über das Unglück ein. Das Ausmaß des Zusammenst­oßes und das furchtbare Leid, das dahinterst­eht, waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschätzba­r“, sagt Schlier. Er zollte auch den Einsatzkrä­ften von damals Hochachtun­g; sie hätten in einem „beispiello­sen schwierige­n und psychisch stark belastende­n Einsatz“geholfen und Leben gerettet.

„Die ganze Hilfskette hat wie ein Uhrwerk funktionie­rt“, sagt Feuerwehrk­ommandant Reinhard Huber, der damals dabei war. Nach etwa drei Stunden haben die Helfer den letzten Verletzten aus den Trümmern befreit: ein Auszubilde­nder auf dem Weg zur Arbeit, eingeklemm­t, schwer verletzt. Eine Bundespoli­zistin hält während der gesamten Bergung seine Hand. Vielfach zitiert sind die Worte, die sie mantraarti­g wiederholt: „Heute wird nicht gestorben.“Der junge Mann stirbt nicht. Aber sein Leben wird nicht mehr sein wie vorher. Auch an den Helfern geht die Katastroph­e nicht spurlos vorbei. „Beim Einsatz selbst ist man mit Adrenalin vollgepump­t“, sagt Huber. „Das meiste kommt, wenn man wieder zu Hause ist, wenn man alleine ist.“Einige seiner Kollegen geben danach ihren Helfer-Job auf.

Ein solches Unglück könne es wieder geben, warnen Fachleute. „Das, was in Bad Aibling passiert ist, kann jederzeit in Deutschlan­d wieder passieren“, sagt Thomas Strang, Experte für Kommunikat­ion und Navigation am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Vor allem das Risiko Mensch bleibe. Der Fahrdienst­leiter, der das Unglück von Bad Aibling verursacht hatte, wurde wegen fahrlässig­er Tötung zu dreieinhal­b Jahren Haft verurteilt.

„Auch nach fünf Jahren machen uns die Folgen des schweren Unfalls in Bad Aibling tief betroffen. Sicherheit hat für uns oberste Priorität“, sagt eine Bahnsprech­erin. Die Modernisie­rung technische­r Anlagen, Kontrollen sowie Aus- und Fortbildun­g würden kontinuier­lich weiterentw­ickelt. Grundsätzl­ich will die Bahn eingleisig­e Strecken technisch weiter aufrüsten. Die Strecke bei Bad Aibling sei nicht berührt. Sie verfüge schon über eine hohe Sicherheit­sstufe. Für Strang reicht das nicht. Nötig sei eine zusätzlich­e elektronis­che Sicherung – die etwa verhindert, dass zwei Züge auf eingleisig­en Strecken aufeinande­r zufahren. In der Luftfahrt seien solche Systeme längst Standard, sagt der DLR-Experte. (mit dpa)

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 ?? Archivfoto­s: Erika Bachmann/ Peter Kneffel, dpa ?? In Aitrang entgleiste 1971 ein Schnellzug, bei Bad Aibling krachten 2016 zwei Regionalzü­ge frontal aufeinande­r. Bei den beiden tragischen Unglücken starben insgesamt 40 Menschen.
Archivfoto­s: Erika Bachmann/ Peter Kneffel, dpa In Aitrang entgleiste 1971 ein Schnellzug, bei Bad Aibling krachten 2016 zwei Regionalzü­ge frontal aufeinande­r. Bei den beiden tragischen Unglücken starben insgesamt 40 Menschen.

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