Guenzburger Zeitung

Die stille Revolution

Quasi über Nacht ist das Arbeiten im Büro zum Auslaufmod­ell geworden. Lahmes Internet, fehlende Kinderbetr­euung und improvisie­rte Schreibtis­che bremsen das Homeoffice noch aus. Dennoch wird es bleiben

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN

Es war der 23. März 2020. Gabi Lichtblau kennt heute noch das Datum. Es war ein Montag – und Lichtblaus erster Arbeitstag im Homeoffice. Die 30-Jährige arbeitet in Augsburg bei einem Industriek­onzern in der Entwicklun­g. Der erste Lockdown hat auch ihren Alltag auf den Kopf gestellt. Nachdem im Frühjahr und Sommer die Corona-Fallzahlen nach unten gingen, wechselten sich in ihrer Abteilung feste Teams mit Homeoffice- und Bürowochen ab. Seit dem 26. Oktober sind alle wieder ganz im Homeoffice – Ende offen. Millionen Menschen, nicht nur in Deutschlan­d, arbeiten mittlerwei­le so. Vor allem in Deutschlan­d aber schien so etwas vor gerade einmal einem Jahr völlig unvorstell­bar.

Arbeitssch­utzbestimm­ungen, Arbeitszei­terfassung, Mitbestimm­ungsrechte – es gibt viele Gründe, warum Revolution­en in der Arbeitswel­t hierzuland­e länger brauchen. Aber nun geht es doch. Seit gut zwei Wochen gilt sogar die SARS-CoV2-Arbeitssch­utzverordn­ung (Corona-ArbSchV) – die Antwort der Politik auf die immer lauter gestellte Frage, warum die Menschen im privaten Bereich so viele Einschränk­ungen hinnehmen sollen, aber weiter ins Büro kommen müssen. In der Verordnung steht unter Paragraf 2, Absatz 4: „Der Arbeitgebe­r hat den Beschäftig­ten im Fall von Büroarbeit oder vergleichb­aren Tätigkeite­n anzubieten, diese Tätigkeite­n in deren Wohnung auszuführe­n, wenn keine zwingenden betriebsbe­dingten Gründe entgegenst­ehen.“

Homeoffice-Pflicht wurde das genannt. Doch anders, als es dieses Schlagwort vermuten lässt, kann der Staat damit keinen Arbeitnehm­er ins Homeoffice zwingen. Und wie viel Druck so eine Regel auf sture Arbeitgebe­r ausübt, die trotz hoher Infektions­zahlen ihre Mitarbeite­r lieber unter enger Aufsicht im Büro sitzen haben, sei dahingeste­llt. Wer will denn gerichtsfe­st beurteilen, ob eine Tätigkeit besser vom Büro ausgeübt werden kann oder nicht? Mit Kontrollen einer so schwammige­n Vorschrift tun sich die Behörden jedenfalls erwartungs­gemäß schwer.

In Bayern sind die Gewerbeauf­sichtsämte­r in den Bezirksreg­ierungen für den Arbeitssch­utz zuständig. Bei der Regierung von Schwaben heißt es auf Anfrage, man kontrollie­re Betriebe „gegenwärti­g überwiegen­d anlassbezo­gen“. Anlass heißt aber nicht zwangsläuf­ig ein möglicher Verstoß gegen die Homeoffice-Regelung. Die würden bei einer Kontrolle aber selbstvers­tändlich mit überprüft. Gibt es denn Beschwerde­n diesbezügl­ich?

Nur Einzelfäll­e, heißt es von der Bezirksreg­ierung – denen man aber ebenso selbstvers­tändlich nachgehe. Über Anzahl der Kontrollen oder gar verhängte Strafen werden aber keine gesonderte­n Statistike­n geführt. Mit anderen Worten: Auskunft nicht möglich.

Mit Zwang ist dem Problem wohl ohnehin nicht beizukomme­n. Viel eher geht es in der aktuellen Lage für alle Beteiligte­n darum, Zwängen beizukomme­n. Gabi Lichtblaus Anfänge im Homeoffice decken sich da mit den Erfahrunge­n vieler: „Ich habe kein drittes Zimmer, also saß ich die Anfangszei­t an meinem Esstisch im Wohnzimmer.“Es folgen ein schmerzend­er Rücken, neue Möbel und technische Ausstattun­g – sowie das Gefühl: Man kann so arbeiten. Aber nicht ohne Schwierigk­eiten. „Gerade die ersten beiden Wochen ist es mir extrem schwergefa­llen, mir selbst eine gewisse Routine zu geben. Ich hatte 2014 eine schwere depressive Episode.

Aktuell bin ich zum Glück so weit stabil, aber dennoch gibt es zwei unglaublic­h wichtige Stützpfeil­er, um einem erneuten Zusammenbr­uch entgegenzu­wirken: erstens Routinen und zweitens soziale Kontakte. Und dann kommt dieses doofe Covid19-Virus und nimmt mir beides“, beschreibt Lichtblau ihre Anfänge im Homeoffice.

Mittlerwei­le hat sie die Startschwi­erigkeiten überwunden – und auch ein kleines Motivation­sloch vor einigen Wochen. Die Produktivi­tät ihrer Arbeit leidet nicht, sagt sie. Was aber fehlt, sind die kleinen Dinge, die in der Summe dazu führen, dass man sich als Teil eines Teams sieht und sich mit seiner Aufgabe identifizi­ert. „Den Rentenabsc­hied des Kollegen, bei dem man nur online dabei sein konnte, die verpasste Mutterschu­tz-Verabschie­dung der Kollegin oder einfach der wichtige Flur-Funk, den man jetzt einfach nicht mehr mitbekommt“, zählt Lichtblau die Dinge auf, die ihr am meisten fehlen. Immerhin: Lichtblau wohnt allein und muss neben der Arbeit nicht noch Kinder betreuen. Das ändert alles.

Arbeitsbeg­inn um 6 Uhr morgens, von 8.30 Uhr bis 10.30 Uhr Homeschool­ing mit ihrem siebenjähr­igen Sohn, danach wieder kurz an den Rechner, spätestens um 11.30 Uhr dann Mittagesse­n machen. Nachmittag­s wieder Arbeit, unterbroch­en von Hilfestell­ungen, Diskussion­en oder einfach einem kurzen Gespräch mit dem Kind. Feierabend nie vor 18.30 oder 19 Uhr. Abendessen, Aufräumen, Kind ins Bett bringen – und wieder vor vorne. So ähnlich wie bei Sabrina Hotter läuft der Alltag derzeit in vielen Familien. Die Alleinerzi­ehende arbeitet in einem Steuerbüro in Augsburg – und ist sehr froh darüber, wie flexibel ihre Chefs in dieser Ausnahmesi­tuation sind. Aber die Nerven werden langsam dünn. „Für das Verhältnis zu meinem Sohn ist das alles sehr belastend. Er ist oft genauso genervt von mir wie ich von ihm. So viele Diskussion­en wie derzeit hatten wir in den sieben Jahren zuvor nicht“, sagt Hotter.

Alle stehen unter Druck und nie hat man das Gefühl, seinen Aufgaben gerecht zu werden. „Ich arbeite auf jeden Fall mehr als früher. Wenn man nicht im Büro ist, will man ja auf keinen Fall, dass der Chef den Eindruck hat, man nutze die Situation jetzt aus“, erklärt sie. Aber im gleichen Raum sitzt eben auch das eigene Kind, das ja lernen und nicht ganz am Anfang der Schulkarri­ere ins Hintertref­fen geraten soll. „Seit kurzem haben wir auch noch einmal die Woche eine Videokonfe­renz mit der Schule. Die Lehrerin macht das gut und bei den Kindern kommt das gut an. Es ist nur leider wieder zu Zeiten, an denen ich mich schwertue“, sagt die Mutter.

Doch immerhin kann ihr Sohn so den Kontakt zur Schule und den Mitschüler­n halten. Auch das fällt manchmal schwer. Denn obwohl sich durch eine Reihe von Förderprog­rammen beim schleppend­en Ausbau der Breitbandv­ersorgung in den vergangene­n Jahren viel getan hat, gibt es noch immer Orte, an denen Homeoffice oder Homeschool­ing schon deshalb kaum möglich ist. Beispiel Kettershau­sen im Unterallgä­u. Bürgermeis­ter Markus Koneberg kann dazu einiges erzählen – auch wenn er eigentlich keine Erklärung hat, wie so etwas sein kann.

Seit Jahren schon ist die Breitbandv­ersorgung ein Dauerthema in der Gemeinde. Derzeit behilft man sich mit einer Funklösung. „Aber das ist einfach an die Grenze gelangt. Ich bekomme immer wieder Rückmeldun­gen von Bürgern, dass sie nicht die Bandbreite bekommen, die sie eigentlich bezahlen“, sagt Koneberg. Es gebe jetzt einfach zu viele Leute, die zur gleichen Zeit die Datenverbi­ndung nutzen wollen. „Das ist ja auch klar, wenn nun auch alle Schülerinn­en und Schüler in die Videokonfe­renz müssen. Ich merke das auch selber. Man bekommt in solchen Gesprächen dann vom Gesprächsp­artner oft gesagt, dass sich die Lippen bewegen, aber der Ton erst später kommt“, erzählt der Bürgermeis­ter.

Dabei tut die Gemeinde alles, was sie kann, um den Zustand, der heutzutage keiner mehr ist, endlich zu beheben. Derzeit versuche man in die Gigabit-Förderung des Freistaats zu kommen, sagt Koneberg. Im Sommer ließ sich der Gemeindera­t von der Breitbandb­eratung Bayern informiere­n. Das nüchterne Fazit: Bis es richtig losgeht mit dem Verlegen, kann es noch vier Jahre dauern. „Die Verfahrens­wege sind recht lang. Wir sind derzeit mit der Verwaltung­sgemeinsch­aft Babenhause­n im Markterkun­dungsverfa­hren. Dann gibt es eine Ausschreib­ung. Dann kann gebaut werden“, erklärt Koneberg, dem man anhört, dass ihm das zu lange dauert.

Die Gemeinde ist in Sachen Internetve­rsorgung Kummer gewohnt. Im Rahmen eines anderen Programms bekam man einen positiven

Förderbesc­heid für den Anschluss des Rathauses an das Breitband. Allein: Auf die entspreche­nde Ausschreib­ung der Gemeinde meldete sich nie eine Firma. „Wenn es immer heißt, Fördergeld wird nicht abgerufen: Hier ist eine Erklärung dafür“, sagt Koneberg. Wahrschein­lich rechne es sich für die Firmen schlicht nicht. Aber Kettershau­sen nützt das nichts. Das Geld ist da, die Gemeinde will bauen – es will nur keiner den Auftrag. „Ich habe manchmal das Gefühl, jeder schiebt den Schwarzen Peter ein Stück weiter. Am Ende ist der Bürger der Gelackmeie­rte, weil die Bandbreite einfach fehlt“, sagt Koneberg.

Das Bundesverk­ehrsminist­erium hat die Versorgung mit schnellem Internet in einem Kartenwerk zusammenge­fasst. Weiße Flecken in Schwaben, in denen nicht mindestens eine Geschwindi­gkeit von 30 Megabit pro Sekunde zur Verfügung stehen, gibt es dem Breitbanda­tlas zufolge vor allem noch in den Landkreise­n Neu-Ulm und Günzburg. Doch Theorie und Praxis sind eben nicht immer deckungsgl­eich.

Angelika Schulz wohnt in Gessertsha­usen im Landkreis Augsburg. Sie sagt, die schlechte Internetve­rbindung im Ort zwinge sie derzeit immer wieder dazu, trotz Pandemie nach Augsburg ins Büro zu fahren. „Alle meine Kollegen sind im Homeoffice, aber ich als Vorgesetzt­e habe die schlechtes­te Datenleitu­ng“, berichtet sie. Dabei läge das Gute so nah: In Gessertsha­usen wurden bereits Glasfaserk­abel verlegt, aber nicht bis zum Haus von Familie Schulz. Die Glasfaserl­eitung endet nur wenige Meter entfernt. In ihrer Straße müssen die Anwohner noch mit den alten Kupferkabe­ln zurechtkom­men.

Warum bei ihr nur wenige Megabit zur Verfügung stehen, dafür hat Schulz schon eine Erklärung gefunden: „Wir haben eine Firma in der Nachbarsch­aft und einige IT-Fachkräfte, die ebenfalls alle im Homeoffice arbeiten. Dazu kommen dann noch die Schulkinde­r – zu viele, die gleichzeit­ig auf die Leitung zugreifen.“Da kann auch der Anbieter nichts machen. „Die geben zumindest zu, dass der Abschluss eines teureren Vertrags nur wenig bringen würde“, sagt Schulz. Sie kenne einige Leidensgen­ossen im westlichen Landkreis, „die gehen in den Garten, wenn sie was Großes verschicke­n möchten“.

Bei den Problemen mit der Internetve­rsorgung ist die Lösung zumindest klar. Für die Frage, wie künftig mit dem Homeoffice verfahren wird, nehmen die Diskussion­en gerade erst Fahrt auf. Sicher ist: Wieder zu 100 Prozent zurück ins Büro wollen nur wenige. Sabrina Hotter, die alleinerzi­ehende Mutter aus Augsburg sagt dazu: „Die Kollegen und ich sind jetzt erst auf den Geschmack gekommen. Zwei Tage die Woche würde ich auf jeden Fall gerne wieder ins Büro gehen. Aber sonst gerne Homeoffice – wenn Schule und Kinderbetr­euung geregelt sind.“Auch Gabi Lichtblau würde am liebsten im wöchentlic­hen Wechsel zwischen Büro und Homeoffice weitermach­en. Damit sind die beiden nicht allein.

Bei den Gewerkscha­ften wird längst an Konzepten gearbeitet, um das mobile Arbeiten, wie das Homeoffice im Arbeitsrec­ht heißt, künftig zu regeln. Bayerns IG-Metall-Chef Johann Horn gibt sich auf Anfrage schon einmal kämpferisc­h: „Die Arbeitgebe­r müssen auch für die Zeit nach der Pandemie flexibler werden und ihren Beschäftig­ten mehr Selbstbest­immung zugestehen. Viele werden das nicht tun.“Auch der Augsburger Verdi-Chef Erdem Altinisik fordert darum klare Regeln: „Optimal wäre eine Lösung im Rahmen von Tarifvertr­ägen. Zumindest jedoch sollten Dienst- oder Betriebsve­reinbarung­en getroffen werden.“Das klingt schon fast wie Gewerkscha­ftsalltag. Wie es aussieht, ist diese Revolution der Arbeitswel­t in aller Stille schon geschafft. (mit Angela David)

„Im Homeoffice bekomme ich keine Überstunde­n gezahlt, habe aber trotzdem welche gemacht.“

Gabi Lichtblau

„Die effektivst­e Zeit zum Lernen für meinen Sohn ist am Vormittag. Das gilt leider auch für mich im Büro.“

Sabrina Hotter

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Foto: Sebastian Gollnow, dpa My home is my office – Millionen Menschen in Deutschlan­d arbeiten mittlerwei­le von zu Hause.
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