Guenzburger Zeitung

„Ohne Tests können wir Aufmachen vergessen“

Lisa Federle ist Notärztin und Präsidenti­n des Tübinger Roten Kreuzes. Für ihre Arbeit in der Pandemie hat sie das Bundesverd­ienstkreuz bekommen. Sie erklärt, warum mehr Corona-Tests mehr Freiheiten ermögliche­n könnten

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Frau Federle, aus Ihrer Sicht als Praktikeri­n: Was halten Sie von den Ergebnisse­n des Corona-Gipfels?

Lisa Federle: Ich bin keine, die sagt, sofort öffnen. Das halte ich für gefährlich. Wir wissen nicht, was mit den neuen Mutanten auf uns zukommt, außer, dass die Infektions­gefahr deutlich steigt. Was ich bemängele, ist das Fehlen einer klaren Teststrate­gie. Nicht nur für Lehrer, auch für Verkäufer, Polizisten und alle anderen Berufe im Notbetrieb.

Es gibt ja schon seit längerem die technische Möglichkei­t zu Schnelltes­ts … Federle: Dafür kämpfe ich schon seit Oktober! Es ist wie im Frühjahr, als ich auf eigene Kosten die Bewohner der Altenheime in Tübingen durchteste­n lassen musste. Bund und Länder brauchen einfach ewig, um irgendetwa­s anzuordnen. Wir sind in einer Krise! Da kann man nicht wie sonst alles Monate und Jahre prüfen. Die Bundes- und Landesregi­erungen müssen sich da langsam mal ranmachen. Alles, was wir unterlasse­n, kostet Menschenle­ben. Beim Impfstoff hat man den Prozess ja auch beschleuni­gt und nicht, wie sonst üblich, zehn Jahre gewartet. Die Kosten für Schnelltes­ts wären ebenfalls gering im Vergleich zu denen für den Lockdown. In Tübingen setzen wir sie schon länger großflächi­g ein.

Wie können diese Schnelltes­ts im Alltag eingesetzt werden?

Federle: Mit den neuen Schnelltes­ts muss man einen Zentimeter tief in die Nase gehen und einen Abstrich machen. Nach zehn bis 15 Minuten gibt es laut Hersteller ein ungefähr 95 Prozent genaues Ergebnis. In Tübingen lassen wir grundsätzl­ich Menschen ohne Symptome diese Schnelltes­ts machen. Die mit Symptomen schicken wir in die Fieberambu­lanz. Bei 18000 Tests haben wir so schon über 300 positive rausgefisc­ht, die sonst nicht getestet worden wären und vielleicht jemanden angesteckt hätten.

Sie haben um die Weihnachts­zeit eine Aktion gestartet, bei der Sie Schnelltes­ts verteilt haben, um Leuten ein Treffen mit ihrer Familie zu ermögliche­n. Könnte man mit Schnelltes­ts auch im privaten Raum mehr ermögliche­n?

Federle: „Stille Nacht, einsame Nacht? Muss nicht sein“haben wir das genannt. Die meisten älteren Leute leben ja zu Hause, aber die sind genauso gefährdet wie die im Heim. Die trauen sich teilweise nicht raus und haben Leute, die für sie einkaufen. Mit diesen Tests könnte man es möglich machen, dass Enkel zu Besuch kommen. Oder dass sie sich mit den Nachbarn auf einen Kaffee treffen. Man müsste nur vorher einen Schnelltes­t machen und könnte sich relativ sicher sein, dass man nicht infiziert ist. Natürlich muss man sich trotzdem an Schutzmaßn­ahmen halten. Eine hundertpro­zentige Sicherheit gibt es nicht. Aber die gibt es beim Kondom auch nicht, und trotzdem benutzt man es. Eine hundertpro­zentige Sicherheit gibt es nie.

Aus der Virologie hieß es ja schon im Sommer, dass Schnelltes­ts vieles möglich machen könnten, aber trotzdem kommen sie bisher nicht flächendec­kend. Warum?

Federle: Ich glaube, das könnte bald schon ganz schnell gehen. Wir bekommen Anfragen aus Kommunen in ganz Deutschlan­d, die wissen wollen, wie wir das in Tübingen machen. Die haben es einfach satt zu warten, bis die Politik tätig wird.

Beim Corona-Gipfel wurde ja beschlosse­n, dass der Warnwert bei der Inzidenz von 50 auf 35 Fälle gesenkt wird. Was kann das bringen? Federle: Ich finde, bei der CoronaPoli­tik geht es zu wenig um die praktische Situation vor Ort. Das sieht man auch an unserem Tübinger Beispiel. Erfolgreic­he Maßnahmen wie Taxigutsch­eine für Senioren und Schnelltes­ts zählen oft gar nicht. Stattdesse­n hängt man sich an theoretisc­hen Zahlen auf.

Was halten Sie davon, dass Länder jetzt selbst entscheide­n sollen, ob sie ihre Schulen und Kitas öffnen? Federle: Ob man das macht, muss man entspreche­nd der Situation vor Ort entscheide­n. Wenn die Inzidenzen höher sind, muss man vorsichtig­er sein. Öffnen kann ich nur, wenn ich eine absolut klare Teststrate­gie habe. Sonst werden wir nach einer Öffnung der Schulen unser blaues Wunder erleben. Und die Infrastruk­tur dafür muss man deshalb unverzügli­ch aufbauen.

Wie würde aus Ihrer Sicht eine Teststrate­gie aussehen, mit der man Schulen sicher öffnen kann?

Federle: Die Tests müssen vor allem kostenlos und niedrigsch­wellig sein. Hier in Baden-Württember­g sollen sich Lehrer zum Beispiel zweimal die Woche beim Hausarzt oder in der Apotheke testen lassen. Das ist viel zu aufwendig. Und teuer ist es auch noch. Das ist wirklich Quatsch. Bei der Präsenzbet­reuung in den Kitas haben wir den Betreuern deshalb beigebrach­t, wie man den Test bei sich selbst macht. Das ist nicht so schwer. Wer in der Nase bohren kann, schafft das auch. Man könnte zum Beispiel auch Testzentre­n einrichten, die mit Ehrenamtli­chen betrieben werden. Freiwillig­e würde man sicher genug finden. Das macht Bayern schon vorbildhaf­t.

Was halten Sie von der versproche­nen Öffnung der Friseure?

Federle: Das ist vielen Leuten sehr wichtig. Aber auch hier brauchen wir wie immer Tests, einfach als Kontrolle. Wenn die alle negativ sind, wissen wir, dass es keine Gefahr gibt. Ohne Teststrate­gie können wir das mit dem Aufmachen vergessen. Auch in anderen Bereichen.

Nach dem Gipfel wurde angekündig­t, dass man „weiter an der Entwicklun­g nächster Schritte der sicheren und gerechten Öffnungsst­rategie“arbeiten will. Ist das durchzuhal­ten?

Federle: Schwer zu sagen. Wie sich eine Maßnahme oder eine Lockerung auswirkt, kann man ja erst drei Wochen später sagen, wenn die Zahlen hochgehen. So lange dauert das. Und wenn die Zahlen gestiegen sind, trifft es immer alle. Dann wissen wir nämlich nicht, ob das von den Kindern, dem Supermarkt oder privaten Treffen kommt. Mit mehr Tests könnten wir das genauer sagen. Dann kann man die Maßnahmen besser zuschneide­n.

Interview: Sören Becker

Lisa Federle gilt als eine Vordenkeri­n des „Tübinger Wegs“, im Zuge dessen im Landkreis Tübingen unter anderem verstärkt getestet wurde. Das geschah Monate, bevor es in ganz Deutschlan­d Standard wurde.

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Foto: Tom Weller Lisa Federle will, dass mehr Corona‰ Tests gemacht werden.

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