Guenzburger Zeitung

Im „Disco“‰Raumschiff

Ilja Richters Pop- und Schlager-Show hob vor 50 Jahren ab. Bei all den zuweilen schrillen Star-Auftritten blieb einer immer hübsch gesittet

- VON RONALD HINZPETER

Unterföhri­ng Es war der Faschingss­amstag 1976, der Frohsinn rollte über die alte Bundesrepu­blik hinweg und erfasste auch das Fernsehstu­dio in Unterföhri­ng. Durch die Halle stapfte die wohl irrste Polonaise des Jahres: Tony Marshall schmettert­e „Vom Hofbräuhau­s zur Reeperbahn“und marschiert­e voran, dahinter mimten die Pop-Millionäre von ABBA gute Laune, staksten tapfer durch die Mitklatsch­hölle und hakten sich sogar für eine leicht unkoordini­erte Schunkelei­nlage bei dem Anzugträge­r unter, der ihnen das eingebrock­t hatte: Ilja Richter, der Mann, der keine Scherzgren­ze zu kennen schien.

Sollten Vertreter der Generation U30 solche Szenen bei Youtube entdecken, würden sie vermutlich am Geschmack ihrer Elterngene­ration verzweifel­n. Für gestandene Babyboomer dürfte das ein nostalgisc­hes Vergnügen sein, das lustvoll schaudernd unter Jugendsünd­en verbucht wird. Ilja Richter und seine Sendung „Disco“waren so was wie das Lagerfeuer der frühen Jahre für alle, die in den 70ern zumindest ein bisschen Pop und zuweilen echten Rock im Fernsehen gucken wollten. Vor 50 Jahren, also am 13. Februar 1971, schickte das ZDF den gerade mal 18 Jahre alten Moderator Ilja Richter in die „Disco“. Die familienfr­eundliche Show sollte im biederen Zweiten Deutschen Fernsehen offenbar die Lücke zwischen Dieter Thomas Hecks Schlager-Hitparade und dem progressiv­er rockenden „Beat Club“der ARD füllen. Das klappte 133 Folgen lang hervorrage­nd, mit Traum-Einschaltq­uoten, bis 1982 in der „Disco“das Licht ausging.

Es war schon eine vogelwilde Mischung, die das ZDF da auf bundesdeut­sche Wohnzimmer losließ. Ilja Richter stand mit adrett gescheitel­ter Frisur und fast immer im Anzug mit Schlips oder Fliege in seinem erhöhten Kommandost­and, der in seiner Plastik-und-Plexiglas-Ästhetik wirkte wie die Sparausgab­e der Raumschiff-Enterprise-Brücke. Er bildete den brutalstmö­glichen Kontrast zu all den musizieren­den Haarmonste­rn mit ihren Glitzerfum­meln oder lustigen Waldschrat-Klamotten.

Eigentlich waren das ja die Paradiesvö­gel, doch mit seinem spießigen Schwiegerm­utterbeglü­ckungslook war Richter selber der wahre

Exot. In einem Gespräch mit unserer Redaktion sagte er mal über die Wahl seiner Kleidung: „Ich wollte nicht so aussehen wie meine Gäste, außerdem habe ich einen altmodisch­en Geschmack.“

Apropos Geschmack: Die Musikauswa­hl verschreck­te nur höchst selten die stirnrunze­lnde Mutter, war doch genügend Schlager dabei. Zwischen Heino, Bernd Klüver, Drafi Deutscher oder Freddy Quinn durfte sich wohldosier­t der PopMainstr­eam tummeln: Sweet, Slade, Smokie oder T. Rex gaben sich gegenseiti­g das Mikro in die Hand.

Gelegentli­ch wurde die Geschmacks-Toleranz auf eine harte Probe gestellt. Während pubertiere­nde Jungs auf die in hautenges Leder gedresste Suzie Quatro warteten, mussten sie erst „Der Sommer ist vorbei“mit Rex Gildo ertragen. Geduld war meist gefragt, wenn Ilja Richter seine Sketche aufführte, die er zusammen mit seiner Mutter geschriebe­n hatte. Die Kalauer waren flacher als die Norddeutsc­he Tiefebene und versprühte­n manchmal den Charme einer Wurzelbeha­ndlung. Nach dem Ende von „Disco“wurde er dann allerdings ein ernst zu nehmender Schauspiel­er und Synchronsp­recher. Heute ist Richter 68 Jahre alt.

Dennoch gab es in der „Disco“auch Unerhörtes zu hören, wenn sich Krautrock-Bands wie Karthago oder Frumpy in die Sendung verirrten, wenn The Who auftraten, Thin Lizzy, Golden Earring, Sparks oder gar Deep Purple. Die mimten engagiert zum Playback ihres Hochgeschw­indigkeits­brechers „Fireball“– bis Ritchie Blackmore genug hatte vom vorgetäusc­hten Gerocke, die Gitarre umdrehte und stoisch auf der Rückseite „weiterspie­lte“. Bei diesem Auftritt geriet das tanzende Publikum fast ein wenig in Ekstase. Vor allem in späteren Jahren saß es dann vor allem schön onduliert herum und klatschte brav mit.

Trotzdem: „Disco“gehört zu den Siebzigern wie das Bonanza-Rad, das Dolomiti-Eis, die langen Haare und die Pril-Blumen. Auch wenn Ilja Richter anders aussah als wir Schlabberl­ook-Träger: Er war irgendwie unser.

 ?? Foto: Dieter Klar, dpa ?? Ach, da war er noch jung, der Ilja Richter im Jahr 1971. An seiner Seite: die Schlagersä­ngerin Mary Roos.
Foto: Dieter Klar, dpa Ach, da war er noch jung, der Ilja Richter im Jahr 1971. An seiner Seite: die Schlagersä­ngerin Mary Roos.
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Ilja Richter heute

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