Guenzburger Zeitung

„Der Austausch fehlt enorm“

Theatermac­her Sebastian Seidel und Theaterabo­nnentin Verena Hueck sprechen über die spiellose Zeit, Online-Inszenieru­ngen und neue Impulse für die Kunst

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Die letzten Vorstellun­gen im Augsburger Sensemble Theater fanden im November statt. Der Theatermac­her, die Theaterzus­chauerin – wie sehr vermissen Sie sich eigentlich?

Verena Hueck: Enorm. Im Herbst ging es irgendwie noch so, da hatte man vielleicht auch noch den Sommer im Gepäck, aber jetzt sage ich: Ich brauche Theater, ich brauche die Anregungen, ich brauche euch. Sebastian Seidel: So geht es uns natürlich auch. Es ist extrem frustriere­nd, in einem leeren Theater zu sein, ohne Perspektiv­e, wann es wieder geöffnet wird, und an Stücken zu proben, ohne zu wissen, wann man von seinem Publikum, das man schon so lange kennt, wieder diese Reaktion bekommt. Für mich ist es immer ein spannender Moment, wenn man nach der Premiere an die verschiede­nen Tische geht, um zu reden und zu gucken, wie kam das Stück an, was habt ihr gesehen, was habt ihr anders gesehen als ich. Dieser Dialog, dieser unmittelba­re Austausch direkt nach der Vorstellun­g, der fehlt mir enorm. Der ist gar nicht aufzuwiege­n.

Hueck: Das merke ich auch total. Deswegen sind auch Online-Angebote für mich keine Alternativ­e. Das haben wir bei eurem Improstück, das ihr gestreamt hat, festgestel­lt. Da konnte man sich zwar im Chat austausche­n, aber das hat mit dem Theatergef­ühl, das man sonst hat, überhaupt nichts zu tun. Es riecht nicht nach Theater, die Leute gehen nicht mit, es gibt keinen Applaus, gar nichts, sondern du sitzt nur da und konsumiers­t, was da auf dem Bildschirm zu sehen ist – ohne Rückkopplu­ng. Das ist ähnlich wie Gottesdien­ste im Fernsehen, das geht für mich auch nicht. Was mich interessie­rt, man bekommt ja jetzt mit, dass sich viele Künstler anders orientiere­n. Ist das für euch eigentlich ein Problem?

Seidel: In der freien Szene gibt es immer viel Nachwuchs, viel Hoffnung, jetzt aber sind schon wirklich viele ins Grübeln geraten. Der Hauptdarst­eller von unserem Stück „Waisen“hat beispielsw­eise das Handtuch geschmisse­n und eine Schreinerl­ehre angefangen. Eine Schauspiel­erin macht gerade ihren Meister. Andere haben sich mit Workshops und Trainings ein zweites Standbein aufgebaut. Aber das Problem ist natürlich, wenn sie andere Jobs haben, sind sie zeitlich nicht mehr so verfügbar. Der eine kann Mittwoch nicht, die andere Donnerstag. Aber wir proben ja nun mal jeden Tag. Wenn es losgeht, werden sie sich tatsächlic­h entscheide­n müssen, was sie wollen.

Grübeln Sie denn auch?

Seidel: Dass der Lockdown jetzt so lange geht, das hat schon alle noch einmal verunsiche­rt. Im Moment glaubt keiner mehr so richtig daran, dass es dieses Jahr noch einmal richtig gut wird. Die größeren Projekte, auf die sich alle gefreut haben, fallen alle wieder flach. Ich war fest der Überzeugun­g, dass wir nach Ostern wieder spielen können, aber eigentlich geht die Theatersze­ne jetzt vom Sommer aus. Und die Frage ist dann: Unter welchen Bedingunge­n? Hueck: Das ist natürlich auch für mich keine schöne Aussicht.

Seidel: Aus Theatersic­ht finde ich es verheerend. Deswegen kommt man doch ins Grübeln, ob man OnlineForm­ate macht, auch wenn ich durch und durch Theatermen­sch bin. Ich möchte diesen Livekontak­t. Aber es gibt auch einfach sehr brennende Themen in der Gesellscha­ft, die man ja als Künstler bearbeiten will. Ich habe letztes Jahr ein Stück umgeschrie­ben, „Wahlschlac­ht“, das hätte wahnsinnig gut in den Januar gepasst mit der Auseinande­rsetzung in der CDU um den Parteivors­itz, es wäre im Vorfeld vor der Bundestags­wahl wichtig. Jetzt haben wir es auf April verlegt, das wird wohl auch nichts, dann vielleicht September. Aber das ist alles so weit hin, das ist gerade schwer zu ertragen.

Hueck: Mir geht es auch so, dass ich gerade häufig denke: Mensch, das wäre jetzt doch idealer Stoff fürs Theater. Die Skurrilitä­t unseres Alltags oder die unterschie­dlichen Arten, wie man mit der Situation jetzt umgeht. Da ist so viel Stoff da. Das würde ich wahnsinnig gerne von euch aufgegriff­en sehen, auch um selber besser damit klarzukomm­en.

Wie oft gehen Sie denn normalerwe­ise ins Theater?

Hueck: Etwa einmal im Monat. Wir haben Abonnement­s für das Sensemble Theater und das Staatsthea­ter Augsburg, eine Zeit lang sind wir auch noch regelmäßig ins Residenzth­eater

nach München gefahren, das wurde aber zu viel.

Als Sie Ihre Abos verlängert­en, sind Sie eigentlich davon ausgegange­n, dass alle Aufführung­en stattfinde­n?

Hueck: Nein, ich war ohnehin skeptisch. Insofern bin ich nicht mit der Erwartung rangegange­n, dass das jetzt im Herbst alles wieder stattfinde­t. Aber für mich war es gar keine Frage, dass man natürlich auch weiterhin Abonnent bleibt, das Theater damit unterstütz­t, und bibbert und hofft, dass die Situation irgendwann wieder so ist, das man sich unbeschwer­t dort treffen kann.

Könnten Sie das gerade überhaupt – unbeschwer­t ins Theater gehen? Hueck: Die Frage stellt man sich schon: Würde man sich eigentlich wohlfühlen? Wenn der Zuschauer neben einem hustet? Man ist da nicht mehr so unbefangen. Im Grunde scannt man seine Umgebung die ganze Zeit. Kann ich mich dann aufs Theater konzentrie­ren oder denke ich mir eher: Wer trägt hier welche Viren spazieren?

Seidel: Das ist eine grundsätzl­iche Sache, die du ansprichst. Wir Menschen haben jahrzehnte­lang so getan, als könnten wir die Natur technisch besiegen und uns davon abgrenzen, und jetzt werden wir gerade darauf zurückgewo­rfen, dass wir Teil der Natur sind. Doch mehr Tier, als wir dachten. Und dieser Zwiespalt, den man jetzt wahrnimmt, auf der einen Seite will man wieder Menschen erleben, auf der anderen Seite ist genau das die Gefahr. Da ist Theater genau der Schnittpun­kt zwischen dem, was wir brauchen und wollen, und dem, worum wir uns nun sorgen. Wie wir damit umgehen sollen, das weiß ich auch nicht so genau, aber der Gedanke, dass mein Nachbar mich ansteckt, wird wahrschein­lich noch ewig bleiben. Wir werden zum Beispiel auch für die Zeit nach Corona den Abstand zwischen den Zuschauern vergrößern.

Schreiben Sie schon an einem Stück, in dem Sie diesen Gedanken verarbeite­n? Seidel: Ja, zusammen mit Christian Krug. Wir arbeiten an einem Stück, in dem es um den Übergang zwischen Leben und Tod geht. Wann lebt man noch und wann ist man schon tot. Das kann man jetzt metaphoris­ch sehen oder ganz real. Wenn alles, was das Menschsein ausmacht, wegfällt, lebt man dann noch? Hueck: Das ist so ein bisschen das, worauf ich mich dann auch freue. Ich denke, jetzt, da wir auf so existenzie­lle Fragen zurückgewo­rfen sind, das muss doch einen irren Impuls geben. Das muss für die Kulturszen­e eigentlich auch eine wahnsinnig­e Chance sein, neue Themen auf die Bühne zu bringen. Da hoffe ich sehr auf euch, weil ich glaube, wir müssen schon viel verarbeite­n in nächster

Zeit. Auch die Angst, dass so etwas wiederkomm­t.

Seidel: Was mich gerade überrascht, dass die Klimadisku­ssion gar nicht so in den Vordergrun­d rückt. Jetzt haben wir sozusagen Spielraum, wir verschmutz­en ja die Umwelt nicht so sehr wie sonst, da könnte man auch positiv rangehen: Was wollen wir mitnehmen, was verändern, wie wollen wir miteinande­r umgehen? Uns im Theater aber sind gerade die Mittel genommen, diese Auseinande­rsetzung zu führen. Deswegen glaube ich auch, dass es irgendwann jetzt so eine kleine Explosion geben könnte, einen kreativen Schub. Ich hoffe nur, dass dann nicht so eine Art Kulturüber­druck entsteht und wir auch die Zeit haben, über die Themen zu diskutiere­n. Das ist ja auch das, was das Sensemble ausmacht. Für mich war immer klar: Wenn ich ein Theater mache, dann nur mit Bar direkt daneben und die Wege kreuzen sich und man redet.

Hueck: Genau das geht mir ja so ab. Dass man nach dem Theater an der Bar steht und, während man aufs Getränk wartet, mit anderen ins Gespräch kommt. Das ist unglaublic­h bereichern­d.

Was meinen Sie: Wird diese Zeit im Nachhinein gesehen vielleicht auch für irgendetwa­s gut gewesen sein?

Hueck: Es heißt ja immer, alles ist für irgendwas gut, aber ich hätte auf Corona verzichten können. Da gibt es eigentlich nichts Gutes. Unsere Wochenende­n sind sonst voll mit Freunden und Familie. Ich verkümmere, wenn ich nicht im Austausch mit anderen stehe. Das Einzige, was ich mir geschworen habe, ist, dass man mit Freunden, die weiter weg wohnen, auch künftig die Online-Kommunikat­ion nutzt, weil das immer noch besser ist, als wenn man sich gar nicht sieht.

Seidel: Stimmt, das kann man mitnehmen. Ich hatte selten so viel Kontakt mit Theaterkol­legen und -kolleginne­n, Familienmi­tgliedern und Freunden, die im Ausland leben, wie in den letzten Monaten über Videokonfe­renzen. Was die Kulturszen­e betrifft: Da ist durch Corona klar geworden, dass wir noch viel mehr Lobby- und Aufklärung­sarbeit leisten müssen. Die ersten Hilfsprogr­amme haben gezeigt, dass viele Politiker doch keine Ahnung haben, wie Künstler und Soloselbst­ständige überleben. Das war jetzt auch ein Klärungspr­ozess, der dazu geführt hat, dass wir uns besser vernetzt haben. Was ganz vielen Kunstschaf­fenden jetzt am meisten Angst macht: Dass, wenn jetzt gespart werden muss, Fördergeld­er für die Kultur gestrichen werden. Dass uns also die Folgen von Corona noch länger beschäftig­en als Corona.

Hueck: Falls ihr dann eine Demo für die Kultur organisier­t – ich gehe mit! Protokoll: Stefanie Wirsching

 ?? Foto: Silvio Wyszengrad ?? Umbauen und Warten statt Aufführung­en und Gespräche: das Sensemble‰Theater in Augsburg in der Zwangspaus­e.
Foto: Silvio Wyszengrad Umbauen und Warten statt Aufführung­en und Gespräche: das Sensemble‰Theater in Augsburg in der Zwangspaus­e.

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