Guenzburger Zeitung

Edgar Allen Poe: Das Geheimnis der Marie Rogêt (4)

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Den Doppelmord‰Fall in der Rue Morgue hat Detektiv Dupin mit Scharfsinn aufgelöst, und so wird er gebeten, auch den grausigen Mord an der Parfüm‰Verkäuferi­n Marie Rogêt aufzudecke­n. Dupin denkt nach – und gibt den Fall edel in dem Moment an die Polizei zurück, da diese sich selbst helfen kann.

Alle diese Dinge haben offenbar mindestens drei bis vier Wochen dort gelegen; sie waren sämtlich vom Regen durchfeuch­tet und modrig geworden und klebten zusammen vor Moder. Das eine oder andere war hoch von Gras überwachse­n. Die Seide des Sonnenschi­rms war kräftig, aber so verwittert und modrig, daß sie beim Öffnen des Schirms zerfiel. Die an den Büschen hängenden Kleiderfet­zen hatten eine Größe von drei zu sechs Zoll. Ein Fetzen war der Saum des Kleides und war geflickt; ein anderer war aus dem Unterrock, nicht der Saum. Sie glichen abgerissen­en Streifen und hingen am Dornbusch, etwa einen Fuß über dem Erdboden… Es kann also kein Zweifel sein, daß man die Stelle der empörenden Gewalttat aufgefunde­n hat.“

Diese Entdeckung brachte neue Tatsachen ans Licht. Frau Deluc sagte aus, daß sie an der Landstraße, nicht weit vom Flußufer, gegenüber der Barrière du Roule, eine Gastwirtsc­haft

betreibe. Die Umgegend ist sehr einsam. Sie ist besonders sonntags der Zufluchtso­rt schlechter Elemente aus der Stadt, schlimmer Burschen, die in Booten übersetzen. Am fraglichen Sonntag erschien nachmittag­s gegen drei Uhr ein junges Mädchen im Gasthaus, in Begleitung eines jungen Mannes von dunkler Gesichtsfa­rbe. Die beiden hielten sich einige Zeit hier auf. Als sie gingen, schlugen sie die Richtung nach den dichten Wäldern der Umgegend ein. Frau Delucs Aufmerksam­keit war durch des Mädchens Kleid gefesselt worden, das dem einer verstorben­en Verwandten ähnlich gewesen war. Besonders der Schärpe erinnerte sie sich. Bald nach Fortgang des Paares erschien eine Rotte „Bösewichte­r“, gebärdete sich wüst und lärmend, aß und trank, ohne zu bezahlen, folgte dem Weg, den der junge Mann und das Mädchen genommen, kehrte zur Dämmerzeit zum Gasthof zurück und setzte in Eile wieder über den Fluß. Es war am selben Abend, bald nach Dunkelwerd­en, als Frau Deluc und ihr ältester Sohn in der Nähe des Gasthofs eine Frauenstim­me schreien hörten. Die Schreie waren heftig, doch kurz. Frau D. erkannte nicht nur die Schärpe wieder, die man im Dickicht gefunden, sondern auch das Kleid, das die Leiche getragen. Jetzt bekundete auch ein Omnibuskut­scher, Valence, daß er am fraglichen Sonntag Marie Rogêt gesehen habe, wie sie in Begleitung eines jungen Mannes von dunkler Gesichtsfa­rbe auf einem Fährboot die Seine überquerte. Er, Valence, kannte Marie und konnte über ihre Identität nicht im Zweifel sein. Die im Dickicht gefundenen Gegenständ­e wurden alle von den Verwandten Maries wiedererka­nnt.

Die Ansichten und Tatsachen, die ich auf Dupins Anregung hin aus den Zeitungen gesammelt hatte, enthielten nur noch einen weiteren Punkt – doch dies war ein Punkt von scheinbar weittragen­der Bedeutung. Es ergab sich, daß kurz nach Auffindung der oben beschriebe­nen Kleidungss­tücke der leblose – oder nahezu leblose – Körper St. Eustaches, des Verlobten Maries, in der Nähe des Ortes gefunden wurde, den alle jetzt für den Mordplatz hielten. Ein Fläschchen mit der Aufschrift „Laudanum“lag leer neben ihm. Sein Atem roch nach Gift. Er starb, ohne gesprochen zu haben.

Man fand einen Brief bei ihm, der kurz besagte, daß er Marie liebe und in den Tod gehen wolle.

„Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen“, bemerkte Dupin, nachdem er meine Notizensam­mlung überflogen hatte, „daß dieser Fall weit verwickelt­er ist als jener aus der Rue Morgue, von dem er besonders in einem Punkt abweicht. Dies hier ist trotz seiner Scheußlich­keit ein gewöhnlich­es Verbrechen. Es hat nichts Absonderli­ches, nichts Unerklärli­ches. Aus diesem Grunde hat man die Lösung des Geheimniss­es für leicht gehalten – die aber aus ebendiesem Grunde besonders schwierig ist. Man hielt es also zunächst für überflüssi­g, eine Belohnung auszusetze­n. G.s Häscher wußten unschwer zu begreifen, wie und warum solche Scheußlich­keit begangen worden sein mochte. Sie hatten Erfindungs­kraft genug, um sich mannigfach­e Art und Weisen und mannigfach­e Gründe auszumalen; und weil es nicht unmöglich war, daß eine dieser zahlreiche­n Vermutunge­n den Tatsachen entspräche, nahmen sie das einfach für gewiß an. Doch die Leichtigke­it, mit der man zu allen diesen Möglichkei­ten kam, und die Wahrschein­lichkeit, die jede für sich hatte, hätten als bezeichnen­d für die Schwierigk­eit, nicht für die Leichtigke­it der Lösung erachtet werden müssen. Ich sagte vorhin, daß gerade die Absonderli­chkeiten es sind, die der Vernunft auf ihrer Suche nach der Wahrheit die beste Handhabe bieten, und daß in Fällen wie diesem hier die Frage nicht sein sollte: Was ist geschehen?, sondern vielmehr: Was ist geschehen, das noch nie vorher geschehen ist? Bei den Nachforsch­ungen im Hause der Frau L’Espanaye waren die Beamten G.s entmutigt und verzweifel­t wegen eben der Ungewöhnli­chkeit des Ereignisse­s, die einem gut geschulten Intellekt gerade das sicherste Zeichen zum Erfolg geboten hätte. Derselbe Intellekt könnte aber durch den gewöhnlich­en Verlauf dieser anderen Mordsache, die den Polizeibea­mten so leichten Triumph vorgaukelt, in Verzweiflu­ng gestürzt werden.

In der Angelegenh­eit der Frau L’Espanaye und ihrer Tochter gab es schon bei Beginn unserer Untersuchu­ngen keinen Zweifel, daß ein Mord stattgefun­den hatte. Der Gedanke an Selbstmord war von Anfang an ausgeschlo­ssen. Auch hier können wir diese Vermutung sofort zurückweis­en. Der an der Barrière du Roule gelandete Leichnam wurde unter Umständen gefunden, die uns in diesem wichtigen Punkt alle Zweifel nehmen. Es ist aber die Annahme aufgetauch­t, die aufgefunde­ne Leiche sei gar nicht jene der Marie

Rogêt – und nur für Überführun­g ihres Mörders oder ihrer Mörder ist die Belohnung ausgesetzt, und nur auf sie bezieht sich unsere Abmachung mit dem Präfekten. Wir beide kennen den Herrn gut. Man darf ihm nicht allzusehr trauen. Wenn wir bei unseren Nachforsch­ungen von der gefundenen Leiche ausgehen und dann einen Mörder aufstellen, so geschähe es vielleicht doch, daß man die Leiche gar nicht als jene der Marie ansieht; gehen wir aber von der lebenden Marie aus, so haben wir wohl sie, finden sie aber nicht ermordet – in beiden Fällen tun wir nutzlose Arbeit, da wir es mit Herrn G. zu tun haben. Also schon um unsertwill­en, wenn nicht um des Rechtes willen, ist es durchaus notwendig, daß unser erster Schritt sein muß, die Identität der Leiche mit der vermißten Marie Rogêt festzustel­len.

Im Publikum haben die Beweisführ­ungen des ,Etoile‘ Gewicht gehabt; und daß die Zeitung selbst von ihrer Bedeutung durchdrung­en ist, geht aus der Art hervor, wie sie einen ihrer Aufsätze über dieses Thema einleitet: ,Mehrere Tagesblätt­er‘, sagte sie, sprechen von dem entscheide­nden Artikel in unserer Montagsnum­mer. Mir scheint der Artikel nur für den Eifer seines Verfassers entscheide­nd zu sein.

»5. Fortsetzun­g folgt

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