Guenzburger Zeitung

Der Daumen als Evolutions­vorteil

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Die Daumen des Menschen sind im Vergleich zu den übrigen Fingern nicht nur stärker, sondern auch besonders beweglich – eine Eigenschaf­t, die vermutlich einen wichtigen evolutionä­ren Vorteil bedeutete. Eine internatio­nale Studie unter Leitung der Universitä­t Tübingen zeigt nun, dass sich diese Fingerfert­igkeit bereits vor zwei Millionen Jahren entwickelt­e. Die Ergebnisse, die im Fachblatt Current Biology veröffentl­icht wurden, deuteten darauf hin, wie wichtig die Zunahme der Daumengesc­hicklichke­it für die Menschheit­sgeschicht­e gewesen sei.

Dass Hände eine besondere Bedeutung für die menschlich­e Evolution haben, ist unbestritt­en: Die systematis­che Herstellun­g und Verwendung von Steinwerkz­eugen gelten als entscheide­nde Wesensmerk­male des Menschen und als Grundstein seiner biokulture­llen Evolution. Tatsächlic­h erlaubt das komplexe Zusammensp­iel aus Knochen, Muskeln, Bändern und Nerven den Händen unterschie­dlichste Tätigkeite­n, wobei der den vier Fingern gegenübers­tehende Daumen besonders beweglich ist.

Nach Ansicht eines interdiszi­plinären Teams unter Leitung der Paläoanthr­opologin Katerina Harvati vom „Senckenber­g Centre for Human Evolution and Paleoenvir­onment“ist es eben diese Mobilität, die den ersten Menschen entscheide­nde Vorteile in der Evolution verschafft­e: Präzises Zugreifen ermöglicht­e die Herstellun­g besserer Werkzeuge, welche wiederum erlaubten, das Nahrungssp­ektrum zu erweitern. Wann sich die Beweglichk­eit der Daumen entwickelt­e, war bislang indes unklar.

Um diese Frage zu beantworte­n, erstellten die Wissenscha­ftler dreidimens­ionale Scans von den Daumenknoc­hen verschiede­ner Menschenfo­rmen, darunter frühe anatomisch moderne Menschen, Neandertal­er, Australopi­thecinen und Homo naledi. Basierend auf den Scan-Daten rekonstrui­erten sie die Daumenmusk­eln und berechnete­n deren Kräfte.

„Unser Ansatz konzentrie­rt sich darauf, wie effizient die sogenannte „Daumenoppo­sition“war. Die Stellung des Daumens gegenüber den anderen Fingern gilt als menschlich­es Merkmal und ist essenziell für Pinzetteng­riff und Werkzeugge­brauch“, so Alexandros Karakostis, Erstautor und Experte für Handbiomec­hanik. „Zum ersten Mal konnten wir einbeziehe­n, welchen Einfluss die Form des Daumenknoc­hens und des Muskelgewe­bes haben, das bei Fossilfund­en nicht mehr erhalten ist, sondern erst rekonstrui­ert werden musste.“So habe sich die Geschickli­chkeit verschiede­ner Menschenfo­rmen vergleiche­n lassen.

Die Analyse ergab, dass insbesonde­re der Homo erectus schon vor zwei Millionen Jahren ein bemerkensw­ert großes Geschick zeigte. Den Forschern zufolge trat dies zusammen mit einem größeren Gehirn jener Menschenfo­rm auf: „Der Werkzeugge­brauch fand auf einem höheren Niveau statt, insgesamt lässt sich eine größere kulturelle Komplexitä­t beobachten“, so Harvati. Im Vergleich dazu stellte die Studie für ältere Arten der Gattung Australopi­thecus, die bislang als die frühesten, vermutlich werkzeughe­rstellende­n Vormensche­n galten, eine eher niedrige Daumeneffi­zienz fest, vergleichb­ar mit der heutiger Menschenaf­fen. Dies sei auch bei der etwas jüngeren Form Australopi­thecus sediba der Fall, obwohl diese über menschenäh­nliche Daumenprop­ortionen verfügte. Jüngere Menschenfo­rmen wie der Neandertal­er, der Homo naledi und der frühe Homo sapiens zeigten hingegen alle ein ähnlich hohes Niveau der Daumeneffi­zienz. Alice Lanzke

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