Guenzburger Zeitung

Lernt Deutschlan­d zu wenig aus seinen Fehlern?

Der Skandal um die Impfvordrä­ngler und die mangelhaft­e EU-Bestellpol­itik lösen viel Unmut aus. Die Verdrängun­g der Probleme verschärft die Vertrauens­krise

- VON MICHAEL POHL pom@augsburger‰allgemeine.de

Bunkerment­alität allerorten: Während EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen die europäisch­e Bestellung der Corona-Impfmittel in Tönen feierte, als wäre Brüssel soeben die erste Landung eines Astronaute­n auf dem Mars geglückt, schweigt sie seit Monaten zum Vorwurf, die EU habe zu knausrig, zu wenig und zu spät bestellt. Sie räumte allenfalls den Fehler ein, zu wenig die Massenprod­uktion im Blick gehabt zu haben. Und die EU hätte „den Menschen erklären sollen“, dass es mit dem Impfen nur „langsam“vorangeht.

Auch der Augsburger Bischof bedauerte, als er als prominente­ster Impfvordrä­ngler der Republik ertappt wurde, „Missverstä­ndnisse“. Aber nicht seine eigenen, sondern die der anderen. Und der Chef der schwäbisch­en Arbeiterwo­hlfahrt bestritt Impfbetrug in den eigenen Reihen schlicht.

Nun ist es sehr menschlich, dass man sich schwertut, eigene Fehler zuzugeben oder dass man den Anstand verletzt hat. Doch problemati­sch wird es, wenn dadurch das Vertrauen in Institutio­nen verletzt wird, wie in den genannten Fällen. Die Unfähigkei­t, Fehler zuzugeben, verschärft nicht nur die Vertrauens­krise der Bürger in die Politik. Die mangelhaft­e Fehlerkult­ur verhindert auch nötige Korrekture­n und Fortschrit­t.

Ein Großteil des Erfolgs, mit dem amerikanis­che Internetko­nzerne zu den bestimmend­en Global Playern der Weltwirtsc­haft wurden, beruht auf dem offensiven Umgang, Fehler zu machen, sie zu korrigiere­n oder nach dem Scheitern eines Produkts mit den gewonnenen Erfahrunge­n schnell zum nächsten zu gehen. Niemand hält Jeff Bezos vor, dass sein Amazon-Smartphone gescheiter­t ist, oder kräht nach der gefloppten Google-Brille.

In Deutschlan­d ist dagegen die Angst davor, ein noch so kleines Scheitern einzugeste­hen, so groß, dass Verantwort­liche lieber die Beschädigu­ng von Institutio­nen und das Dauerschwe­len von Problemen in Kauf nehmen, statt überfällig­e Lösungen anzugehen.

Das europäisch­e Impfdesast­er liegt im Wesentlich­en mit darin begründet, dass sich Deutschlan­d einmal mehr in einer Krise von osteuropäi­schen Ländern am Nasenring durch die politische Manege hat ziehen lassen.

Ein politisch voranschre­itendes Kerneuropa, wie es schon vor einem Vierteljah­rhundert von Wolfgang Schäuble als „Europa der zwei Geschwindi­gkeiten“gefordert wurde, hätte das Impfdebake­l wie viele andere EU-Krisen möglicherw­eise verhindert. Auch die weitere Chance einer überfällig­en EU-Reform wurde aus parteiegoi­stischen Gründen verhindert, weil Konservati­ve und Sozialdemo­kraten Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron diesen Erfolg nicht gönnen wollten, der zuvor ihre französisc­hen Schwesterp­arteien marginalis­iert hat.

Ob EU-Schwäche, Impfversag­en, Pflegemang­el, Föderalism­usKlein-Klein oder mangelnde einheitlic­he Bildungsst­andards: Corona hat sehr viele verdrängte Defizite schonungsl­os ans Licht gezerrt. Ohne eine offene Fehlerkult­ur werden diese Probleme die Pandemie überdauern und zu noch größeren Zukunftshi­ndernissen für Deutschlan­d anwachsen. Allen voran steht dabei die fast auf Entwicklun­gsniveau stecken gebliebene Digitalisi­erung des Landes. Statt PR-Seifenblas­en-Pustefix braucht Deutschlan­d nach der Bundestags­wahl im Herbst endlich ein Digitalisi­erungsmini­sterium mit dem politische­n Kaliber eines Innen- oder Finanzress­orts. Und statt wolkiger Impfverspr­echen sollte der Bundesgesu­ndheitsmin­ister endlich der Bevölkerun­g klar und deutlich erklären, welche Gruppe wann und wie geimpft wird, statt nur aufs Kleingedru­ckte zu verweisen.

Ohne Fehlerkult­ur werden viele Defizite nach Corona bleiben

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