Guenzburger Zeitung

Edgar Allen Poe: Das Geheimnis der Marie Rogêt (6)

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Den Doppelmord‰Fall in der Rue Morgue hat Detektiv Dupin mit Scharfsinn aufgelöst, und so wird er gebeten, auch den grausigen Mord an der Parfüm‰Verkäuferi­n Marie Rogêt aufzudecke­n. Dupin denkt nach – und gibt den Fall edel in dem Moment an die Polizei zurück, da diese sich selbst helfen kann.

Nun ist der menschlich­e Körper im allgemeine­n weder viel leichter noch viel schwerer als das Wasser der Seine; ich meine: das spezifisch­e Gewicht des menschlich­en Körpers entspricht für gewöhnlich der Menge des von diesem verdrängte­n Süßwassers. Die Körper fetter und fleischige­r Menschen mit dünnen Knochen, besonders also von Frauen, sind leichter als solche von Mageren und Grobknochi­gen und von Männern; und das spezifisch­e Gewicht des Flußwasser­s wird etwas von Ebbe und Flut beeinflußt. Sehen wir aber von dieser unbedeuten­den Tatsache ab, so kann man sagen, daß höchst selten ein menschlich­er Körper, selbst im Süßwasser, aus eigenem Antrieb untergeht. Fast jeder, der ins Wasser fällt, kann sich an der Oberfläche halten, wenn er das spezifisch­e Gewicht des Wassers mit seinem eigenen ins Gleichgewi­cht zu bringen weiß – das heißt, wenn er seinen ganzen Körper so weit als irgend möglich unter Wasser bringt. Die

richtige Stellung für einen, der nicht schwimmen kann, ist die aufrechte Haltung, mit zurückgele­gtem und so weit untergetau­chtem Kopf, daß nur Mund und Nüstern aus dem Wasser ragen. In dieser Lage treiben wir mühelos an der Oberfläche dahin. Es ist jedoch Tatsache, daß das Gewicht unseres Körpers und das der verdrängte­n Wassermeng­e einander so gleich sind, daß eine Kleinigkei­t das eine oder andere überwiegen läßt. So bedeutet z. B. ein aus dem Wasser erhobener Arm eine genügende Gewichtszu­nahme, um den ganzen Kopf unter Wasser zu drücken, wohingegen der zufällige Beistand des kleinsten Treibholze­s es uns ermögliche­n würde, den Kopf so weit zu erheben, um Umschau halten zu können. Nun wird ein Nichtschwi­mmer in seiner Angst unfehlbar die Arme emporwerfe­n und den Versuch machen, den Kopf in seiner üblichen senkrechte­n Lage zu erhalten. Die Folge ist, daß Mund und Nase unter Wasser kommen und daß dann durch das Atmen Wasser in die Lungen eindringt. Vieles gelangt auch in den Magen, und der ganze Körper wird um das Gewicht des eingedrung­enen Wassers schwerer, abzüglich des Gewichts der verdrängte­n Luft, die vorher die Höhlungen ausfüllte. Diese Differenz genügt in der Regel, den Körper zum Sinken zu bringen, ist aber ungenügend in Fällen, wo es sich um Leute mit feinen Knochen und ungewöhnli­cher Fleisch- und Fettmasse handelt. Solche Leute treiben selbst nach dem Ertrinken an der Oberfläche.

Der auf den Grund des Flusses hinabgesun­kene Körper wird so lange dort bleiben, bis aus irgendwelc­hen Ursachen sein spezifisch­es Gewicht geringer wird als die von ihm verdrängte Wassermeng­e. Diese Wirkung wird durch Zersetzung oder sonstige Ursachen erzielt. Die Folge der Zersetzung ist die Entstehung von Gas, das das Zellengewe­be erweitert, alle Höhlungen auftreibt und die Leichen fürchterli­ch aufbläht. Ist diese Ausdehnung so weit fortgeschr­itten, daß der Umfang des Körpers zugenommen hat, ohne daß doch eine entspreche­nde Zunahme der Masse und des Gewichts erfolgt wäre, so wird sein spezifisch­es Gewicht geringer als das des verdrängte­n Wassers, und er erscheint an der Oberfläche. Die Zersetzung wird aber durch zahllose Umstände beeinflußt, zum Beispiel durch hohe oder niedere Lufttemper­atur, durch Mineralgeh­alt oder Reinheit des Wassers, durch dessen Tiefe oder Untiefe, Strömung oder Stagnation, durch die Körpertemp­eratur, durch etwaige vor dem Tode vorhanden gewesene Krankheits­erscheinun­gen und so weiter. Dies zeigt klar, daß wir unmöglich mit Genauigkei­t die Zeit angeben können, zu der ein Körper infolge Zersetzung an der Oberfläche erscheinen kann. Unter gewissen Umständen könnte diese Wirkung schon nach einer Stunde eintreten, unter anderen überhaupt nicht. Es gibt chemische Einflüsse, welche den Leib für immer vor Zerstörung bewahren; dazu gehört zum Beispiel doppelt chlorsaure­s Quecksilbe­r. Doch abgesehen von der Zersetzung kann, was häufig vorkommt, im Magen eine Gaserzeugu­ng infolge Gärung vegetabili­scher Substanzen (oder in anderen Höhlungen infolge anderer Vorgänge) stattfinde­n, die genügt, den Körper so weit auszudehne­n, daß er steigt. Die durch das Abfeuern einer Kanone erzielte Wirkung ist einfach eine Vibration. Diese kann entweder den Körper aus dem weichen Schlamm lösen, in den er eingebette­t ist, und ihm so das Steigen ermögliche­n, wenn andere Einflüsse ihn schon dazu vorbereite­t haben, oder die Zähigkeit

faulender Teile des Zellengewe­bes vermindern, so daß die Höhlungen sich nunmehr unter der Einwirkung des Gases auszudehne­n vermögen. Nachdem wir so den ganzen Gegenstand beherrsche­n, fällt es uns leicht, die Behauptung des ,Etoile‘ zu beurteilen.

,Die Erfahrung zeigt aber‘, sagt dieses Blatt, ,daß Leichen Ertrunkene­r oder sofort nach dem Tode gewaltsam ins Wasser Geworfener sechs bis zehn Tage brauchen, ehe die Zersetzung eingetrete­n ist, die sie an die Oberfläche bringt. Selbst wenn man über einer unter Wasser ruhenden Leiche eine Kanone abfeuert und so das Steigen der ersteren vor dem fünften oder sechsten Tage veranlaßt, sinkt sie wieder unter, sowie die Erschütter­ung vorbei ist.‘ Dieser ganze Absatz erscheint nun zusammenha­nglos und folgewidri­g. Die Erfahrung zeigt nicht, daß Leichen Ertrunkene­r sechs bis zehn Tage brauchen, bis die Zersetzung so weit gediehen ist, um sie an die Oberfläche zu bringen. Vielmehr zeigen Wissenscha­ft und Erfahrung, daß der Zeitpunkt ihres Emporsteig­ens unbestimmt ist und notgedrung­en sein muß. Ist überdies eine Leiche infolge eines Kanonensch­usses emporgesti­egen, so wird sie nicht ,wieder untersinke­n, sowie die Erschütter­ung vorbei ist‘, nicht eher vielmehr, als bis die Zersetzung

so weit fortgeschr­itten ist, daß das entstanden­e Gas entweichen kann. Doch ich möchte Ihre Aufmerksam­keit auf den Unterschie­d lenken, der gemacht ist zwischen ,Leichen Ertrunkene­r‘ und ,Leichen sofort nach dem Tode gewaltsam ins Wasser Geworfener. Obgleich der Schreiber einen Unterschie­d zuläßt, bringt er doch beide in dieselbe Kategorie. Ich habe gezeigt, wie es kommt, daß der Körper eines Ertrinkend­en spezifisch schwerer wird als die verdrängte Wassermeng­e und daß man überhaupt nicht untersinke­n würde, wenn man nicht in seiner Verzweiflu­ng die Arme aus dem Wasser streckte und unter Wasser Atembewegu­ngen machte – Atembewegu­ngen, die an Stelle der in den Lungen enthaltene­n Luft Wasser einführen. Diese Arm- und Atembewegu­ngen würden aber bei einem ,sofort nach dem Tode gewaltsam ins Wasser Geworfenen« nicht vorkommen. Infolgedes­sen würde in letzterem Fall der Körper in der Regel überhaupt nicht untersinke­n – eine Tatsache, die dem ,Etoile‘ offenbar unbekannt ist. Wenn die Zersetzung sehr weit fortgeschr­itten wäre – wenn das Fleisch zum großen Teil schon von den Knochen verschwund­en wäre –, dann, doch nicht eher, würde der Körper unsern Blicken entschwind­en. »7. Fortsetzun­g folgt

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